14.12.2009
"Der Leistungsgedanke ist toxisch!"
Mediziner Eckhard Schiffer im ruprecht-Interview
In seinem Buch "Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde" beschreibt der Mediziner und Philosoph, warum Jugendliche und junge Erwachsene zu Drogen greifen und wie dem vorgebeugt werden kann: mit weniger Leistungsdenken.
ruprecht: Herr Schiffer, warum wurde Huckleberry Finn eigentlich nicht süchtig?
Eckhard Schiffer: Diese Frage wird im Buch beantwortet (lacht). Aber warum mir dieser Titel so sympathisch war, liegt daran, dass Huckleberry Finn eine der Lieblingsfiguren in meiner eigenen Kindheit war. Ich fand es Klasse, wie er es geschafft hat, sich als Außenseiter durchzuschlagen. Heute wäre Huckleberry Finn ein Fall für das Sozialamt: Der Vater trachtet ihm nach dem Leben und von der Mutter war gar nicht mehr die Rede. Die Frage ist: Was ist es, was ihn über Wasser hält?
Was war das Ihrer Meinung nach?
Er hatte ein starkes Kohärenzgefühl, was sich aus seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen speiste, speziell aus seiner Freundschaft zu Jim, dem entflohenen Sklaven, aber auch aus seinem Verhältnis zu seinen anderen Freunden, bei denen er sich respektiert und geachtet fühlte. Das waren die Ressourcen, aus denen er sein Kohärenzgefühl bezog. Er besaß eine lebendige Innenwelt und entwickelte unglaubliche Spielphantasien. Aufgrund dieser reichen Innenwelt konnte er aus jeder Situation ein Abenteuer machen.
Eine Eigenschaft, die man auch bei anderen Helden in Kinderromanen findet.
Ja. Ein ähnliches Muster finden Sie auch bei Pippi Langstrumpf oder Momo. Diese Figuren bedurften keiner Kicks wie Drogen, Alkohol oder Geschwindigkeitsrausch. Es ist mittlerweile sogar neurobiologisch nachgewiesen, dass es beim Spielen von Kindern auf den Prozess ankommt. Klar, wenn sie Räuber und Gendarm spielen oder sich als Ritter bekämpfen, ist es immer schön, auch zu siegen. Es kommt aber nicht hauptsächlich darauf an, der Erste, Beste oder Schnellste zu sein, sondern miteinander zu spielen.
Würden Sie angesichts der heutigen Suchtproblematik zustimmen, dass prozessorientiertes Spielen abnimmt?
Ja, das prozessorientierte Spielen nimmt ab. Kinder treffen sich nicht mehr auf der Straße, weil sie überfahren werden könnten oder weiß der Kuckuck, was die Eltern befürchten. Treffpunkte sind rar geworden; was bleibt sind überpädagogisierte Nachmittage wie Ballettstunden. Hier können Kinder zwar ihr Potenzial zeigen, aber dennoch sind diese Beschäftigungen immer ergebnisorientiert. Es gibt keine Aktivität, wie Schwimmen, Musizieren, von Fußball sowieso zu schweigen, bei der es nicht irgendwann zum Wettbewerb kommt. Diese Konkurrenzsituation beginnt schon bei der Geburt, wenn die Eltern sich darum sorgen: Was wird aus meinem Kind; was für einen Job wird es später bekommen?
Sie meinen also der Leistungsgedanke sei schädlich.
Er zerstört sofort das Beziehungsgeflecht einer Familie, die eigentlich eine Haltefunktion übernehmen sollte. Ein Freundeskreis kann diese Haltefunktion auch übernehmen, was gerade bei Kindern aus zerbrochenen Familien sinnvoll ist.
Aber kann der Leistungsgedanke nicht auch förderlich sein?
Der Leistungsgedanke, der mit der Wertschätzung und Anerkennung meiner Person einhergeht, ist toxisch. Der ruiniert die Menschen, macht sie suchtkrank und depressiv. Sind Kinder bereit, aus freiem Willen Leistung zu bringen, dann ist es in Ordnung. Es gibt neurobiologische Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder, die beziehungs- und prozessorientiert spielen, verstärkt Nervenwachstumsfaktoren bilden, die für eine stärkere Vernetzung ihrer Nervenzellen sorgen. Der phylogenetische Hintergrund ist folgender: Kinder, die gerade zur Welt gekommen sind und vergessen werden, sind bedroht, sogar tödlich bedroht. Der Anfang einer jeden schöpferischen Entfaltung ist die Beziehung.
Wie sieht diese Beziehung aus?
Sie wird am Anfang durch die sogenannten Lächeldialoge geknüpft, die vom Kind ausgehen. Alles, was beim Kleinkind dann kommt, das Summen, das Lallen, das Erzählen, das sind ebenfalls schöpferische Entfaltungen. Werden sie wohlwollend wahrgenommen, dann sind sie für die Entwicklung des Kindes förderlich. Wenn es dann aber anfängt, herumzukritzeln, um beispielsweise ein Insekt mit dreizehn Beinen zu zeichnen, werden die Eltern wahrscheinlich die Augenbraue hochziehen und sagen "Das stimmt aber nicht, mal das mal richtig". Bei komplexeren, schöpferischen Entfaltungen fließt dann, seit PISA ganz besonders, die Benotung mit ein. Damit wird die Prozessorientierung zur Produktorientierung.
Was ist unter dieser Produktorientierung zu verstehen?
In der Grundschulklasse kann man es schon beobachten: Sonja soll nach vorne kommen, ein Lied singen und anschließend einen Purzelbaum schlagen. Wenn man sie fragen würde, was für Gefühle ihr durch den Kopf gehen, so ist es Beschämung. Das Gefühl, da vorne im Boden zu versinken. Genau diese Beschämung hält uns später davon ab, schöpferisch tätig zu sein, obwohl es eine Ressource dafür sein sollte, Depressionen zu mindern oder Spannungen zu lösen. Fangen wir zu früh an, schöpferische Tätigkeiten zu entwerten oder bewerten, dann schüren wir damit die Angst, abgewiesen und nicht anerkannt zu werden. Das ist eine Angst, die in jedem Menschen steckt.
Soll in Schulen also auf die Benotung verzichtet werden?
Nur in den schöpferischen Fächern wie Kunst oder Musik. Dort ist der Weg das Ziel. Eine Mathematikaufgabe ist etwas, was eine andere Person schon ausgerechnet hat. Das Bild ist eine Eigenproduktion.
Wäre es in den anderen Fächern nicht ebenfalls sinnvoll?
Das wird ja bereits in Finnland so praktiziert. Dort gibt es in allen Fächern erst ab dem achten Schuljahr Noten. Es stellt sich nur die Frage, ob das in unserer Gesellschaft umsetzbar ist. Außerdem müssen Kinder, je nachdem, was sie im Elternhaus an Selbstorganisationsfähigkeit erworben haben, auf unterschiedliche Weise an die Hand genommen werden. Es gibt sicherlich Kinder, denen es sehr gut tut, wenn sie keine Noten erhalten und sich frei entfalten können; es kann aber auch Kinder geben, die davon nicht profitieren. Man muss einfach schauen, was zu welchem Kind passt. Pauschallösungen sind da schwierig. Also, für mich wäre das Abschaffen von Noten ein sehr sympathischer Gedanke. Aber ich bin wie gesagt Mediziner und kein Pädagoge.
Die schöpferische Selbstentfaltung eines Menschen soll Ihrer Meinung nach ein wichtiger Teil in unserem Leben sein. Kann man das als Erwachsener trotz beruflicher Pflichten oder Stress im Studium noch umsetzen?
Es gibt natürlich Phasen, wo dies nur reduziert umsetzbar ist, aber dennoch wäre es schön, wenn es in unserem Leben seinen Platz hat – nicht im Sinne eines Stundenplans, sondern einfach aus einer Spontaneität heraus. Das Schöpferische kann bereits ein einfaches Gespräch sein. Daniel Stern hatte dafür einen wunderbaren Ausdruck: "moment of meeting".
Was bedeutet das?
Er beschreibt, dass es im Alltagsgeschehen, in dem "moving along", einen "now moment" gibt, in dem sich etwas verdichtet. Ergreift man diesen Moment am Schopf, dann kommt es zu dem "moment of meeting". Neben einem Gespräch können auch das Verfassen eines Briefes, das Betrachten eines Sonnenuntergangs oder Begegnungen mit Enkeln, Kindern und Freunden schöpferische Augenblicke sein. In diesen Momenten können wir vergessen, was wir früher an Kränkungen erlebt haben.
Gibt es eine Form der kreativen Tätigkeit, die der anderen vorzuziehen ist?
Nein, man sollte einfach eine Tätigkeit wählen, die zu einem passt und an der man Freude hat. Für mich ist das beispielsweise das Erzählen von Geschichten. Blockflöte spiele ich auch gerne, aber eben prozessorientiert. Das heißt, ich setze mich dabei nicht unter Druck. Das Schöpferische pendelt stets zwischen Tätigkeiten und Gedanken, die man mit sich allein ausmacht, und dem Austausch. Vom Grundsatz her braucht das Schöpferische nämlich Beachtung, nach dem Motto: Schau her, das bin ich!
Das ist dann aber auch eine gewisse Art von Exhibitionismus.
Exhibitionismus in dem Augenblick, wenn ich den anderen instrumentalisiere, mich wahrzunehmen, das heißt, wenn der andere nur zum Zuschauer wird und keinen Dialog mit mir eingeht. Dahinter steckt ein brüchiges Selbstwertgefühl. Bei so einer Art Monolog lässt uns die Bedürftigkeit dieses Menschen peinlich berührt werden, denn dann wird derjenige in seiner Nacktheit wahrgenommen. Der Exhibitionist erregt zwar Aufmerksamkeit, merkt aber nicht, dass er die anderen überrollt und diese nicht wahrnimmt. Das ist das Problem: Ich kann die anderen nur in einer guten Form wahrnehmen, wenn ich selber auf natürliche Weise wahrgenommen worden bin.
Ist die Sucht nach Aufmerksamkeit nicht auch eine Art Droge? Wo fängt eigentlich die Definition von Drogen an?
Ich zäume das Pferd mal von hinten auf. Wenn Menschen beziehungsweise Jugendliche ein starkes Selbstbewusstsein haben und von innen her lebendig sind, dann benötigen sie keine zusätzlichen Kicks durch Suchtstoffe oder -verhalten mehr, um ihr desolates Selbstwertgefühl zu betäuben. Die meisten Alkoholabhängigen trinken ja nicht, weil es ihnen schmeckt, sondern weil sie sich nur im Rausch aushalten können. "Warum trinkst du?", fragte der kleine Prinz den Säufer, "Weil ich mich schäme", "Warum schämst du dich?“, "Weil ich trinke". Wenn dieser Teufelskreis geschlossen ist, dann haben wir eine Sucht.
Ist da Alkoholsucht wirklich ein guter Vergleich?
Es ist relativ, was als Suchtstoff oder -verhalten gelten kann. Auch eine regelmäßige übermäßige Nahrungsaufnahme, bei der eine massive Gesundheitsschädigung zu erwarten ist, erfüllt bereits die Kriterien einer Sucht wie Abstinenzunfähigkeit und Kontrollverlust.
Also würde der tägliche Gebrauch von Drogen eine Sucht darstellen?
Der tägliche Gebrauch, der zu einer Einschränkung meiner Funktionstüchtigkeit führt. Menschen, die jeden Tag Drogen konsumieren, sind im Grunde sehr unglücklich. Zwar können diese durch Drogen ein Hochgefühl erleben, gleichzeitig erfahren sie aber auch eine starke Reduktion der eigeninitiativen Persönlichkeit. In diesem Fall geht jegliche Spontaneität, gesunder Ehrgeiz sowie das Verantwortungsgefühl gegenüber anderen Menschen verloren.
Vielen Dank für das Gespräch.
von Xiaolei Mu und Sanja Topic