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 Leserbriefe
05.02.2013

Kulturkonservatismus am Czernyring

Leserbrief zu "Brücke der Verdammnis" in Ausgabe 142

Mich beschleicht das Gefühl, das meine Kritik nicht nur eine Autorin oder einen Autor, sondern die ganze Redaktion betrifft. Eure Rubrik „Hässlichste Orte Heidelbergs“ unternimmt jetzt schon seit fünf Episoden den Versuch, dem Heidelberger Stadtbild eine architektonische und ästhetische, teilweise sogar soziale Kritik zu unterziehen.

Der Bismarckplatz (Folge 1), zugegeben, ist nicht der schönste Knotenpunkt im Heidelberger Verkehrssystem. Der Römerkreis (Folge 2) dagegen lässt euch den Magen zusammenziehen. Der Friedrich-Ebert-Platz (Folge 3) sei „so fehl am Platz, als hätte sich ein alliierter Bomber 1945 auf dem Weg nach Mannheim verirrt und aus Versehen einen Krater in die Häuserreihen der Altstadt gerissen, der dann schleunigst gestopft werden musste“. Und der Heidelberger Hauptbahnhof (Folge 4)? Es kam wohl niemandem in den Sinn, einmal zu recherchieren, warum der Hauptbahnhof seit über 40 Jahren unter Denkmalschutz als „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ steht. Wikipedia hätte für diese Info übrigens gereicht.

Und damit komme ich zum eigentlichen Grund meines Leserbriefes, die Folge 5 über die Czernybrücke (Titel: „Brücke der Verdammnis“), in deren unmittelbarer Nähe ich im Übrigen völlig freiwillig und gerne wohne. Damit klar wird, worauf ich mich beziehe, gehe ich den Text einmal Abschnitt für Abschnitt durch.

Ihr redet von „Familiendramen, Diebstahl, Raubüberfällen“. Was sind eure Quellen? Gibt es Polizeiberichte und Statistiken? Ich habe hier Betrunkene, ein paar dealende Jugendliche und angemalte Wände gesehen. Und ich vermute stark, dass die Untere Straße in der so idyllischen Altstadt am Wochenende gefährlicher ist als der Czernyring.

Die Lebensqualität lässt hier angeblich zu wünschen übrig, es kommt Wasser von der Decke und ihr wundert euch das RTL noch nicht da war. Der Czernyring ist meine fünfte Wohnung in Heidelberg und bisher hatte ich noch keine Wohnung, die für den gleichen Preis einen solchen Standard geboten hat. In der West- und Altstadt sind Heizungssysteme, Fensterabdichtungen und Dielenböden oft veraltet und darüber hinaus noch völlig überteuert. Wenn ihr RTL holen wollt, dann schickt sie zu den Burschenschaften Richtung Heidelberger Schloss – dort finden die eigentlichen Skandale statt.

Danach sprecht ihr von „barbierosa“, „simpsongelb“ und „disneyblau“, um die Häuser am Czernyring zu beschreiben. Aha. Und? Außerdem sagt ihr, Toys’R’Us toppe das Ganze, indem er wirke „wie eine betrunkene Dame, die in einem drei Nummern zu kleinen Kleid auf einer Beerdigung Aufsehen erregt“. Ganz abgesehen davon, dass kein Mensch versteht, welche subtilen Augenzwinkereien in dieser Umschreibung versteckt sein sollen, kann ich euch nur nahe legen, euch erstmal mit der Sache auseinanderzusetzen, bevor ihr in euren Formulierungen so selbstbewusst auftretet.

Schließlich zieht ihr die schlechte Erreichbarkeit des Czernyring als Grund dafür an, dass Fremde lieber fern bleiben sollen. Ist das euer ernst? Wer von hier in die Altstadt will, kann die Linie 33 direkt an der Czernybrücke nehmen und landet nach 20 Minuten an der Peterskirche. Wer nachts wieder nach Hause will, kann mit dem Moonliner direkt zur Czernybrücke oder einfach zum Hauptbahnhof fahren und von da aus in 5 Minuten laufen. Und das hält Leute fern? Ich glaube, ihr habt keine Ahnung, wie viele Studierende gerne in Innenstädtenähe gewohnt hätten, aber mit weiter entfernten Wohnungen in Dossenheim, Eppelheim oder Leimen vorlieb nehmen mussten. Deren Abgeschiedenheit könntet ihr mal thematisieren, falls euch schon die Ideen für interessante Artikel fehlen.

Anschließend stuft ihr die Czernybrücke als „mehr schlecht als recht“ für einen romantischen Spaziergang ein und verleiht ihr den „Flair einer einsamen Stadt im wilden Westen“. Eure Aussage suggeriert, dass Heidelberg vorwiegend eine Stadt für romantische Spaziergänge sei. Wenn das eure Sicht auf Heidelberg ist, dann seid genau ihr das Problem der Stadt. Kein für den Tourismus arrangiertes Vorurteil trägt so sehr dazu dabei, dass die Stadt nicht bunt und lebendig, sondern langweilig und eintönig wird. Dazu könnt ihr weiter unten gleich noch mehr lesen, falls das nicht verständlich genug war. Und dass euch im Czernyring noch nie jemand über den Weg gelaufen ist, kann wohl nur daran liegen, dass ihr noch nie einen Fuß hierher gesetzt habt.

Bis dahin waren eure Aussagen über der Gürtellinie und schlecht gezielt. Und dann muss ich doch tatsächlich lesen: „Kein Wunder, zu fuß ist man hier lieber nicht unterwegs. Der Passant spielt dann entweder unfreiwillig die Hauptrolle in einer Reality-TV-Krimi-Serie oder wird von einem Auto überrollt. Letzteres steht schließlich auf Platz drei der Todesursachen im Czernyring, nach dem ‚goldenen Schuss’ und Mord- und Totschlag.“ Gibt es dafür Quellen? Statistiken? Polizeiberichte? Auf welcher Grundlage fußen die ersten beiden Sätze? Ganz abgesehen von den Punkten, die ich oben als „Klarstellungen“ genannt habe, sind das schlichtweg Beleidigungen und Verunglimpfungen, die ihr hier in die Welt setzt. Es hätte nur noch gefehlt, dass ihr vom Neukölln von Heidelberg sprecht und damit den Kreis an stupiden Vorurteilen und billiger Polemik schön säuberlich schließt.

Und zum Abschluss müsst ihr natürlich der Czernybrücke noch eines mitgeben, um die soll es laut Überschrift „Brücke der Verdammnis“ ja eigentlich gehen. Ihr schreibt: „Der Ausblick von der Czernybrücke auf eine der ganz und gar nicht schönsten Bahnstrecken Deutschlands lädt nicht, wie auf der Alten Brücken, zum Schwärmen, sondern eher zum Suizid ein.“ Erstmal ist der Satz irreführend, da er für Nicht-Heidelberger vermuten lässt, dass die Alte Brücke einen schwärmerischen Blick auf eine Bahnstrecke bietet. Zweitens möchte ich gerne wissen, welche Bahnstrecke denn bitte eine schöne ist, wenn diese angeblich so hässlich ist. Wer pure Eisenbahnromantik will, sollte ins Engadin in die Schweiz ziehen. Und drittens ist eure Suizid-Polemik so geschmacklos, dass man wirklich von einem handwerklichen und stilistischen Problem in eurer Redaktion ausgehen muss. Anders ist dieser Blödsinn jedenfalls kaum zu erklären.

Ach ja, und da war ja noch der letzte Satz, indem folgendes klar gestellt wird: „Ein Sturz von der Brücke hinab auf die Bahngleise dürfte ein sicherer Plan für den Freitod sein.“ Ich schlage einmal zwei Interpretationen dieses Satz vor, eine gut gemeinte und eine etwas strengere. Nimmt man den Satz einfach nur als Beschreibung eines Sachverhaltes hin, dann ist sein Informationswert gleich Null. Ihr wollt bestimmt nicht ernsthaft diskutieren, ob die Chancen bei anderen Brücken höher oder geringer sind. Wenn man dagegen mit dem Satz etwas strenger sein will, dann kann man ihn auch so deuten, dass den Bewohnern des Czernyrings zwischen den Zeilen der Freitod nahe gelegt wird. Und das wollt ihr doch sicher nicht – oder doch?

Mit eurer kompletten Rubrik „Hässlichste Orte Heidelbergs“ begebt ihr euch in die Tradition eines Kulturkonservatismus, mit dessen Ästhetikverständnis ihr in Kreisen von Heidelberger Burschenschaftlern bestimmt herzlich willkommen seid. Dort könnt ihr euch dann über die Traditionslosigkeit der kritisierten Bauten näher austauschen und neue Pläne zur Rettung des ach so romantischen Stadtbildes von Heidelberg schmieden. Um das so zu sehen, braucht man kein radikaler Linker sein. Wenn doch, dann hat Heidelberg wirklich ein Problem.

Nicht nur euer Leitartikel „Druck gegen Rechts“ muss vor diesem Hintergrund jedenfalls mehr als unglaubwürdig wirken. Auch euer eigener Anspruch auf kritische Unabhängigkeit scheint so eher inhaltsleer. Wenn euch daran doch etwas liegt, dann solltet ihr euch auch darum bemühen.

Ich schlage vor, ihr entschuldigt euch erstmal für eure Aussagen im Artikel „Die Brücke der Verdammnis“ sowie in der Rubrik „Hässlichste Orte Heidelbergs“. Auf diesem Wege begrabt ihr die Rubrik dann auch bitte ganz schnell. Falls ihr immer noch nicht verstanden habt, warum, beantworte ich gerne eure Fragen. Ich freue mich, auf eure Antwort.

Mit allerbesten Grüßen
Moritz von Stetten
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie

   

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