15.05.2007
Hip-Hop-Hauptstadt Heidelberg
Ein Ritt auf dem Zeitstrahl mit dem Rapper Toni L.
Anfang der 80er Jahre lösten die Kultfilme Wildstyle, Beatstreet und Stylewarz eine deutschlandweite Hip-Hop-Welle aus. Überall, in Fußgängerzonen und Bahnhofshallen, übten Breaker zu Elektrobeats aus dem Ghettoblaster an neuen Moves.
Anfang der 80er Jahre lösten die Kultfilme Wildstyle, Beatstreet und Stylewarz eine deutschlandweite Hip-Hop-Welle aus. Überall, in Fußgängerzonen und Bahnhofshallen, übten Breaker zu Elektrobeats aus dem Ghettoblaster an neuen Moves.
Von den Medien stark gehyped, donnerte diese Welle durch die Republik, ebbte jedoch bald wieder ab. Nicht so in Heidelberg. Hier hatte eine ganze Reihe von Jugendlichen, darunter viele mit Migrationshintergrund, erkannt, dass von der Hip-Hop-Bewegung eine besondere Magie ausging. Diese Jugendlichen wussten, dass sich ohne sie nichts bewegen würde und sie selbst aktiv sein mussten, wenn sie diese „Herzensangelegenheit“ weiterentwickeln wollten, wie das Gründungsmitglied der Heidelberger Hip-Hop-Pioniere Advanced Chemistry Toni L. sagt.
Zum Epizentrum der Hip-Hop-Bewegung wurde dabei die Internationale Gesamtschule Heidelberg (IGH) im Hasenleiser. Natürlich haben die Schüler auch dort schon gebreakt, waren von den neuen Vibes aus den USA infiziert, doch das hier vorhandene Potential und die Energie unterschieden sich von dem anderer Städte. Vor allem das Hip-Hop-Talent Gonzales Maldonado, zunächst EZG, dann Gee One genannt, brachte mit seinem Bruder neue Einflüsse aus England an die IGH. So haben die Jugendlichen in jeder Pause gebreakt und auch die ein oder andere Schulstunde in eine Hip-Hop-Lesson umfunktioniert. „Aus ganz Deutschland kamen Tänzer nach Heidelberg, um an der IGH zu tanzen“, erinnert sich Toni.
Die GrĂĽndung von Advanced Chemistry war ein Meilenstein im deutschen Hip-Hop
Ein weiterer prägender Aspekt für die Entwicklung des Heidelberger Hip-Hop war die Stationierung der Amerikaner. „Bei den Deutsch-Amerikanischen Volksfesten im Patrick-Henry-Village haben wir uns regelmäßig mit den Amis gebattlet. Am Anfang haben wir noch gewonnen. Doch dann kamen neue Leute aus den USA, viele auch aus New York, die haben uns dann richtig den Arsch aufgerissen“, erzählt Toni schmunzelnd. Das habe zu neuer Motivation geführt: „Wir mussten uns immer weiterentwickeln und unsere Styles verbessern.“ Diese „Battle“ genannten Tanzwettkämpfe standen in der klassischen Hip-Hop Tradition, ohne Gewalt sondern durch Stil und Eleganz den Gegner vorzuführen.
Für die Heidelberger Hip-Hop Pioniere war es wichtig, die gesamte Hip-Hop-Kultur zu zelebrieren. So fingen die Tänzer an zu rappen, zeichneten in ihre Blackbooks und lieferten sich zur Beatbox Freestyleduelle. Die Leute aus der IGH, darunter auch die Stieber Twins, belächelten die in der Bravo abgebildete Breakdance-Anleitungen und perfektionierten stattdessen auf ausgebreiteten Kartonschachteln in der Hauptstrasse ihre Tanzbewegungen. 1987 nahm die lose Bewegung Konturen an: Ein Meilenstein war die Gründung der Band Advanced Chemistry (AC), zu der neben Torch, Toni L. und Linguist (früher Corporal K) auch noch der bereits erwähnte Gee One sowie der DJ Mike MD zählten.
Hip-Hop war ein Mittel gegen Rassismus und Diskriminierung
Da sie viel reisten, im ganzen deutschsprachigen Raum unterwegs waren, entstand bald ein dichtes Netzwerk aus hochmotivierten Künstlern, für die Hip-Hop mehr war als nur eine Freizeitbeschäftigung – er war zu ihrem Leben geworden. Auf unzähligen Jams, den so genannten Zusammenkünfte der Szene, repräsentierten Toni L. und die AC-Posse Heidelberg. Beispielsweise beim damals größten Hip-Hop Festival CH-Fresh in der Schweiz zusammen mit Größen wie den Stereo MCs. Selbst Paris haben sie erobert – und alles mit rein deutschsprachigen Texten, was für damalige Verhältnisse sehr ungewöhnlich gewesen sei, wie Toni meint.
Aufgrund ihres multinationalen Hintergrundes beschäftigte sich AC intensiv mit gesellschaftlich sensiblen Themen. Den alltäglichen Diskriminierungen und latenten Rassismus wollten sie nicht länger hinnehmen. So thematisierten sie in ihren Texten diese Missstände und machten Hip-Hop zu einem Instrument, um dagegen anzugehen. Die Hip-Hop Kultur war somit nicht nur Familie und Nährboden für einen unglaublich kreativen Output, sondern zugleich ein wichtiges Ausdrucksmittel für benachteiligte Gruppen.
Hip-Hop war immer mehr als nur Rap
Dabei ist fĂĽr die Heidelberger Hip-Hop-Szene immer das Zusammenspiel der vier Hip-Hop-Elemente wichtig: Rap, Breakdance, Graffiti, DJing. Namen wie SCM und die von Gee One und Chris Stieber gegrĂĽndete Nachfolgeformation The Phunk Masterz (TPM), bei der auch das Emmertsgrunder Allround-Talent Scotty 76 mitwirkte, sorgten dafĂĽr, dass Heidelberg auch in Sachen Graffiti Kultstatus erreicht.
Die Hip-Hop-Kultur ist zu Beginn der 90er für die Medien noch ein Fremdwort und umso kritischer verfolgten die Heidelberger den Aufstieg von vier Stuttgartern, die in ihren Augen „nur rumblödeln und die wahren Hip-Hop-Werte dabei vergessen“. Den Sell-out, den Ausverkauf „ihrer“ Kultur, prangern sie in Interviews und auf Jams an.
Heidelberg setzt in dieser fast schon ideologischen Debatte auf Textbotschaft und Style. Das Ziel war weniger, viele Platten zu verkaufen, sondern die Hip-Hop-Werte zu sichern.
Auch im Ausland dient der Heidelberger Hip-Hop als Sinnbild einer neuen deutschen Kultur
Toni L. und seine Crew erkannten, dass sie durch Hip-Hop neue Impulse setzen konnten. Als AC 1992 die erste Single „Fremd im eigenen Land“ veröffentlichte, gab ihnen der Erfolg Recht. Wider Erwarten spielten die Radiosender den Titel und MTV trug zur Verbreitung ihrer Message bei. Selbst Langenscheidt veröffentlichte Texte, Auftritte in Talkshows und Podiumsdiskussionen folgten und trugen zu einer offeneren Diskussion über Rassismus bei.
Da AC sich mit ihrer ersten Veröffentlichung fünf Jahre Zeit gelassen hatten, war eine weitverzweigte Infrastruktur entstanden, die sich nutzen ließ, um die Low-Budget-Produktion unter die Leute zu bringen. So ließen sich die drei Jungs das Geld für die Plattenpressung vorstrecken und verkauften die ersten Scheiben auf der Straße, direkt aus dem Kofferraum heraus.
Unterstützung erfuhren sie auch von der damaligen Radiomoderatorin Anke Engelke, die AC einer breiteren Zuhörerschaft bekannt machte. Noch heute wundert sich Toni L., dass ein wenig massentaugliches Stück eine derart hohe Resonanz erzielen konnte. Später wurden Tonis Texte in Deutsch-Lehrbüchern abgedruckt und in Frankreich spannte das Goethe-Institut Toni an Schulen in den Deutschunterricht ein, um neue Facetten der deutschen Kultur zu vermitteln.
Tonis persönlichen Höhepunkt des Heidelberger Hip-Hops gibt es noch heute auf Video zu sehen. Im Clip zu „ Fremd im eigenen Land“ stehen Advanced Chemistry auf dem Dach eines VW Busses, gefeiert von einer riesigen Menge Gleichgesinnter. Toni L.: „Das war wohl einer der besten Momente der Hip-Hop-Geschichte in Heidelberg.“
Hip-Hop-Glossar
Battle – Wettkampf
Beatbox – mit dem Mund nachgeahmter Musik, vor allem Beats. Wichtig, weil ohne technische Hilfsmittel ein Rhythmus zustande kommt, über den sich rappen lässt
Blackbook – Buch für Zeichnungen, Fotos eigener Graffitis oder für Texte
Breaker – jemand, der Breakdance tanzt, auch B-boy/ B-girl genannt
Crew – Gruppe
Freestyle – spontan improvisierter Rap
Jam – hergeleitet von englisch jam = Marmelade à Gedränge; Zusammenkunft, Party
Moves – Tanzbewegungen
Sell-out – Ausverkauf; vor allem in Verbindung mit dem Einschlagen kommerzieller Wege
Style – Stil; eigene Art der Darstellung
von Jörn Basel, Sebastian Bühner, Karla Kelp