29.01.2008
Marschrutka statt Metro
Die Russen lieben das billige Linientaxi – doch seine Zeit ist abgelaufen
Vor dem städtischen Nahverkehr in Russland steht der Westeuropäer wie vor einem Rätsel. So viele Linien, davon viele doppelt und dreifach befahren, andere dagegen stillgelegt! Inmitten aller Widrigkeiten hat sich die „Marschrutka“ als beliebtestes Fortbewegungsmittel etabliert. Wie man mit ihr vorwärts kommt, hier am Beispiel Sankt Petersburg.
Vor dem städtischen Nahverkehr in Russland steht der Westeuropäer wie vor einem Rätsel. So viele Linien, davon viele doppelt und dreifach befahren, andere dagegen stillgelegt! Inmitten aller Widrigkeiten hat sich die „Marschrutka“ als beliebtestes Fortbewegungsmittel etabliert. Wie man mit ihr vorwärts kommt, hier am Beispiel Sankt Petersburg.
Die Bushaltestellen an Sankt Petersburgs Prachtboulevard Nevskij Prospekt sind meist voller Menschen. Doch die wenigsten von ihnen warten auf den Bus. Immer, wenn im vorbeirollenden Verkehr ein gelbes Fahrzeug sichtbar wird, treten sie auf die Straße und spähen angestrengt nach der Liniennummer. Ist es die gewünschte, winken sie das Taxi an den Straßenrand.
Ãœber zwanzig dieser „marschrutnye taksi“ (Linientaxis), offiziell „marschrutki“ genannt, bedienen allein den Nevskij Prospekt. Insgesamt sind es im Moment über 450 Linien, die sich in Petersburg und in den Vororten bewegen. Etwa 20 Firmen befahren Sankt Petersburg mit rund 5000 gelben Minibussen, in denen in der Regel 13 Menschen Platz finden. Das K vor der Liniennummer ist die Abkürzung für „kommertscheskij“, was bedeutet, dass die Chauffeure als Angestellte von Privatunternehmen ihre eigenen Preise verlangen.
Die Privatwirtschaft ist auch der Grund, weshalb man kaum jemals seine Linie auf einem Haltestellenschild angeschrieben findet. Doch es fährt auch nicht auf jedem Gleis eine Straßenbahn, sodass es Touristen immer ein Rätsel bleiben wird, ob ein Bus, ein Taxi oder eine Tram angefahren kommt und warum. So bleibt dem Ortsunkundigen nichts anderes übrig, als die Metro zu nehmen. Wer allerdings länger als nur ein paar Tage bleibt und auch etwas Russisch versteht, erklärt früher oder später die Marschrutka zu seinem Lieblingsfortbewegungsmittel.
Die gewünschte Linie zu finden, erfordert eine ähnliche Strategie, wie eine Route auf dem Brettspiel „Scotland Yard“ zu planen. Mit Stadt- und Fahrplan ausgerüstet, meint man, die richtige Marschrutka schon finden zu können. Doch dann kommt meistens alles ganz anders, denn die Linien verändern sich schnell. Am besten fragt man jemanden aus der Nachbarschaft, der weiß, welche Linie vor der Haustür wohin fährt.
In einer Marschrutka sitzen alle dicht an dicht wie auf einer Klassenfahrt. Das Fahrgeld wird von Hand zu Hand bis nach vorne zum Fahrer durchgereicht. Innerhalb der Stadt sind das etwa 16 Rubel (40 Cent), auf längeren Strecken auch mal bis zu 30 (zum Vergleich: im öffentlichen Nahverkehr kostet eine Strecke einheitlich 14 Rubel). Auch das Wechselgeld kommt immer passend zurück. So viel in Russland auch betrogen wird – in einer Marschrutka gelten andere Gesetze.
Der Durchschnittschauffeur ist ein Mann mittleren Alters, der bis über beide Ohren in Scheinen und Kleingeld sitzt, manchmal raucht und seinen eigenen Humor hat. Im Service inbegriffen ist das Anhalten auf Zuruf, Umfahren von Staus und laute Popmusik aus dem Radio. Eine Sammlung der besten Petersburger Marschrutka-Aufschriften und -Witze gibt es im Internet. Die Marschrutka hat also nicht nur Befürworter, sondern auch Fans.
Dennoch soll sie innerhalb der nächsten zehn Jahre aus dem Stadtbild verschwinden, wie der Stadtrat im September bekannt gab. Denn dass die gelben Taxis wie Fliegen die öffentlichen Linienbusse umschwärmen, Staus rund um die Haltestellen verursachen und die Preise in die Höhe treiben, ist die andere Seite der Medaille.
Ãœber ein Verbot oder eine Einschränkung der „Privaten“ würden sich vor allem ältere Petersburger Bürger freuen, wie ein Umfrage der „Sankt Petersburgischen Zeitung“ ergab. Mit der Kommerzialisierung und der damit einhergehenden Unübersichtlichkeit der Strecken kommen die Jüngeren besser klar.
Die Marschrutka transportiert hauptsächlich Studenten und Arbeitnehmer, erklärt jedenfalls eine 19-jährige Studentin. Ein 65-jähriger Befragter formuliert das so: „Die jungen Leute treten morgens vor die Haustür und strecken noch im Schlaf die Hand raus.“ Ihm selbst sind die Linientaxis zu teuer.
von Cosima Stawenov