09.11.2010
„Es gibt falsche Ideen und einen tiefen Nationalismus“
Der ungarische Ex-Außenminister Péter Balázs im ruprecht-Interview
Bis zur Parlamentswahl im April arbeitete Péter Balázs als ungarischer Außenminister. Davor war er Botschafter in Deutschland und Dänemark sowie der erste ungarische EU-Kommissar. Wir sprachen mit ihm über den Rechtsruck in Ungarn und Europa, die Auswirkungen auf Minderheiten und Demokratie und Ungarns Platz in der EU.
Bis zur Parlamentswahl im April arbeitete Péter Balázs als ungarischer Außenminister. Davor war er Botschafter in Deutschland und Dänemark sowie der erste ungarische EU-Kommissar. Wir sprachen mit ihm über den Rechtsruck in Ungarn und Europa, die Auswirkungen auf Minderheiten und Demokratie und Ungarns Platz in der EU.
Die rechtsradikale Partei Jobbik ist in Ungarn auf dem Vormarsch. Sie ist mit drei der insgesamt 22 ungarischen Sitze im EU-Parlament vertreten und hat bei den letzten nationalen Parlamentswahlen im April 17 Prozent erreicht. Wie lässt sich das Erstarken der Rechten in Ungarn erklären?
Im Ungarischen Parlament gab es zwischen 1998 und 2002 bereits eine rechtsradikale Partei mit zehn Abgeordneten. Aber das war eine alte Gruppierung, die heute verschwunden ist. Die jetzt erstarkte Rechte in Ungarn ist ganz neu. Sie ist jung, dynamisch – das ist eine andere Generation. Ich kann nicht sagen, ob sie hausgemacht sind, ob eher reaktionär oder revolutionär. Aber was wir ganz eindeutig kennen, sind ihre Hauptzielsetzungen: Die Parteimitglieder sind tief nationalistisch geprägt, mit einer Anti-Roma- und Anti-Globalisierungs-Einstellung, im Allgemeinen gegen die EU, den IWF, und so weiter.
Wurzelt diese Tendenz also in der Gesellschaft?
Ich glaube man kann noch nicht wissen, wie tief sie in der Gesellschaft verankert ist. Meines Erachtens nach sind die 17 Prozent zu hoch. Das war eine erste Begeisterung. Viele Wähler waren enttäuscht von den Sozialisten und wollten eine neue radikale Stimme hören. Aber ich glaube, dass dieses Abbild eher eine vorübergehende Stimmung ist, ein Protest vielleicht, der wieder weniger werden wird.
Bei den Jobbik-Aufmärschen in Budapest sieht man viele junge Leute. Die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen in Ungarn ist verglichen mit dem europäischen Durchschnitt sehr hoch. Hängt das zusammen?
Diese Zustimmung ist bestimmt auch ein Produkt der Wirtschafskrise und der Arbeitslosigkeit. Ich bin jedoch nicht sicher, ob die Wähler alle jung sind. Aber die Vertreter der Partei sind jung. Im Parlament sieht man überwiegend junge Leute. Und der harte Kern davon sind junge Historiker, Leute mit einer eigentlich sehr guten Ausbildung.
HeiĂźt das, die Vergangenheit wurde nie richtig aufgearbeitet?
Vielleicht ist das eine Ursache, ja. Viele Ungarn glauben zum Beispiel, Großungarn sei ein eigenständiges Land gewesen; dabei war es Teil der Dual-Monarchie von Österreich- Ungarn und bei weitem nicht souverän. Und zugleich hat Ungarn andere Nationalitäten unterdrückt, wie die Slowaken und die Rumänen. Das wird oft vergessen oder verdrängt. Wir haben eine komplizierte Geschichte, die man heute, nach 100 Jahren, verstehen sollte. Aber anstatt einer solchen Analyse gibt es Träume, gibt es falsche Ideen und einen tiefen Nationalismus.
Fußt dieser neue Nationalismus also in dem Gefühl des Mangels an symbolträchtigen Institutionen?
Ja, das könnte man so sagen. Auf die aktuelle Entwicklung von Jobbik bezogen, kann man zwei Dinge erkennen: Zum einen fehlt eine gute Kenntnis der Geschichte und zum anderen eine Zukunftsperspektive, denn die Wirtschaftskrise hat ganz bestimmt die Extremisten auch mit hervorgerufen.
Wie zeigen sich diese rechtsradikalen Tendenzen im Alltag und in der ungarischen Gesellschaft?
Viele Leute interessieren sich gar nicht so sehr dafür. Und viele junge Leute, die in internationalen Unternehmen arbeiten oder im Ausland studieren, die eine viel breitere Sicht auf die Welt haben, sind dafür gar nicht anfällig. Die Verlierer des Systemwechsels, der Globalisierung sind für diese rechtsradikalen Parolen viel empfindlicher.
Wie wirkt sich das auf die Minderheiten in Ungarn aus?
Ich würde da einen Unterschied machen zwischen nationalen Minderheiten, wie etwa die Slowaken und Rumänen, und der Minderheit der Roma. Die Ersteren haben nur die andere Kultur und ihre eigene Sprache. Die Roma haben weniger ein Sprachproblem, sondern zusätzlich wirtschaftliche und soziale Probleme. Das ist nicht nur für Ungarn ein Problem, sondern auch für die Slowakei, Tschechien, Rumänien und Bulgarien. Wir sollten da ganz von unten beginnen mit der Schulbildung und einem besseren Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung. Es muss eine Einführung der Roma in die höheren Schichten der Gesellschaft geben.
Also eine geregelte Minderheitenrepräsentation?
Ja. In den Regionen, in denen ein Großteil der Roma lebt, war Jobbik bei den Kommunalwahlen im Oktober auch besonders stark. Es gibt Probleme mit der Roma- Bevölkerung und Jobbik konnte Stimmen in diesen Bezirken gewinnen, das ist ganz eindeutig. Jobbik ist dort stark, wo die Roma-Bevölkerung lebt. Das ist ein Signal für die Regierung, sich viel tiefer mit der Roma- Problematik beschäftigen zu müssen. Damit hat man zwar schon begonnen und es wird auch eine EU-Strategie geben, aber hier muss an den Ursachen eines möglichen Konfliktes gearbeitet werden.
Wie bewerten Sie das Vorgehen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in diesem Zusammenhang?
Das war eine falsche Reaktion. So kann man nicht gegenĂĽber einer Minderheit auftreten, auch mit dem Hintergrund von Recht und Normen der EU. Vielleicht hat die EU-Kommission ziemlich streng reagiert. Aber es ist eindeutig ein soziales Problem, und man sollte es auch als ein solches behandeln.
Man kann in vielen europäischen Ländern, nicht nur in Ungarn, einen gewissen Ruck nach Rechts beobachten, wie zum Beispiel in den Niederlanden oder in Österreich beobachten. Da gibt es erste Annäherungen untereinander, Initiativen sich zu verbinden, zu kooperieren. Sehen Sie das mit Besorgnis?
Ich glaube, wir sollten diese neuen Erscheinungen sehr ernsthaft analysieren, in jedem Land. Wenn es Ähnlichkeiten gibt, dann sollten wir zusammen handeln. Wenn es sie nicht gibt, dann sollten wir getrennt handeln. Ich kann diese rechtsextremen Bewegungen heute noch nicht miteinander vergleichen. Aber ich habe mit holländischen Freunden darüber gesprochen. In beiden Fällen gibt es Zeichen dafür, dass die Regierung auch ein bisschen die Musik der Rechtsextremisten spielt, aber sofort besteht ein großer Unterschied: In Holland gibt es eine Minderheitenregierung, in Ungarn gibt es eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament, das ist schon ein Unterschied. Man sollte viel tiefer und viel ernsthafter diese Analyse vollziehen, das haben wir in Ungarn begonnen, vielleicht werden wir manche klaren Antworten finden.
Haben Sie das GefĂĽhl, es wird verharmlost? Ist das eine Gefahr fĂĽr die Demokratie?
Extremisten stellen immer eine Gefahr für die Demokratie dar. Aber wenn sie im Parlament sitzen, sind sie unter parlamentarischer Kontrolle. Das ist besser, als wenn sie auf der Straße demonstrieren. Aber das ist nicht die Lösung; die Lösung ist, solche Ziele, solche Werte aufzuzeigen, die die Wähler anziehen.
Also sind Sie prinzipiell gegen das Verbot von Parteien und für eine „kontrollierte Zusammenarbeit“?
In einer Demokratie kann man nur unmenschliche Ziele oder Reden verbieten. Im Allgemeinen sollte man versuchen, und das ist die ungarische Tradition, mit politischen Mittel dagegen anzutreten. Ungarn ĂĽbernimmt 2011 den Ratsvorsitz in der EU.
Blicken Sie auf dieses Datum eher mit Freude und Stolz oder auch mit Sorge, dass dies ein Faktor für eine Destabilisierung in der EU sein könnte?
Ich habe hohe Erwartungen, denn Tausende von Experten haben diese Präsidentschaft in Ungarn vorbereitet, sie haben gute Arbeit geleistet. Es ist ein Zwischenfall, dass wir eine neue Regierung haben, das gehört auch dazu. Mit der Regierung sehe ich manche kleinere Probleme. Die vorhersehbaren Elemente des Arbeitsprogramms sind festgelegt, wie das langfristige Budget, Erneuerungen der gemeinsamen Agrarpolitik, die Politik gegenüber dem westlichen Balkan, die Östliche Partnerschaft, die Roma-Strategie und die Donau-Strategie. Aber es gehören auch die unvorhersehbaren Überraschungen dazu, und das ist eine Gefahr für jede Ratspräsidentschaft.
Sie haben die Integration Ungarns von verschiedenen Perspektiven miterlebt und begleitet. Als Botschafter, Regierungsmitglied und innerhalb der Kommission. Wie bewerten sie die Entwicklung Ungarns innerhalb der EU?
Ungarn ist tief in der EU verwurzelt. Ungarn gehört zu Mitteleuropa, das ist unser Platz in Europa. Zusammengerechnet hat jetzt schon eine ganze Generation der Ungarn im Geiste der EU gelebt. Darum sind wir tief in die EU integriert. Vom Systemwechsel bis zum Beitritt 2004 sind fast anderthalb Jahrzehnte vergangen. Das scheint lange zu sein. Aber historisch gesehen war das ziemlich kurz. Es wird noch etwas Zeit brauchen, alle diese Ereignisse zu realisieren. Denn man hatte nie die Zeit, diese schnelle Anpassung geistig aufzuarbeiten.
Hat sich Ungarn zu sehr und zu schnell abhängig gemacht von seinen westeuropäischen Nachbarn?
In der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise ist Ungarn tief gefallen, weil es so abhängig war von westeuropäischen Krediten. Es gab einen Moment, als die Krise wirklich tief war, das war gegen Ende 2008. Aber seitdem haben einerseits der IWF und die EU mit einem 20 Milliarden-Paket geholfen. Andererseits gab es einen Regierungswechsel mit einem neuen Ministerpräsidenten Gordon Bajnai (2009-2010) und die sind ziemlich gut davongekommen. Ungarn geht in die gute Richtung.
Wie beurteilen Sie den deutsch-französischen Vorschlag der Sanktion in Form eines politischen Stimmentzuges?
Technisch gesehen glaube ich, das ist eine gute Idee. Politisch sollte man in der EU eine entscheidende Anzahl an Mitgliedsstaaten vereinen, dann kann man solche Ideen einführen und verwirklichen. Große und kleine Länder miteinander. Alleine geht’s nicht. Das Miteinander ist das Wichtigste.
Muss Ungarn in Sachen Umweltschutz noch von anderen europäischen Ländern lernen, wenn man zum Beispiel den Giftschlamm-Unfall betrachtet?
Ja, das war ein gutes Beispiel dafür, dass wir nicht für alle Umstände Regeln haben. Da kann und muss Ungarn, aber auch die EU, noch dazulernen und Regelungen finden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Ungarns Weg nach der Wende
Oft wird Ungarn als Musterland der mittel- und osteuropäischen Transformationsgeschichte bezeichnet: Nach der Wende 1989 wurden demokratische und marktwirtschaftliche Grundprinzipien erfolgreich verwirklicht. 2004 folgte der Beitritt zur Europäische Union.
Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise erwischte Ungarn 2008 besonders stark. Die Haushaltskassen waren jedoch bereits leer. Hoch gesteckte Ziele für den sozialen und ökonomischen Ausbau führten zu einem Haushaltsdefizit. Hilfspakete der EU, der Europäischen Zentralbank und des IWF verhinderten vermutlich die Zahlungsunfähigkeit.
Im April 2010 wählte die ungarische Bevölkerung zum sechsten Mal nach dem Regimewechsel ihr Nationalparlament. Hier gewann die rechtsradikale Partei „Jobbik“ stark hinzu und zog mit 17 Prozent erstmals ins Repräsentantenhaus ein. Im kommenden Jahr hat das Land erstmals die EU-Ratspräsidentschaft inne.
von Stefanie Fetz