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 StudiLeben
13.11.2011

Akademische Landflucht

AuslĂ€ndische Unis schĂŒtzen sich von Ansturm deutscher Studenten

Europa

Karte: Sceptre / Wikimedia Commons

Der Trend, dass immer mehr deutsche Studenten ins Ausland gehen, nimmt von Jahr zu Jahr zu. Und das war schließlich auch gewollt: Mit der Erweiterung des europĂ€ischen Hochschulraumes sollen Studenten und Wissenschaftlern die Grenzen innerhalb Europas geöffnet werden.

Die Eingangshalle des Anglistischen Seminars ist so dicht besetzt wie die Buslinie 31 morgens auf dem Weg zum Uniplatz. Das kommt nur dreimal im Jahr vor: zu Beginn des Sommer- und Wintersemesters, wenn Erstis sich orientieren; und zu Beginn des Weihnachtsmarktes, wenn ernĂŒchterte höhere Semester das Land verlassen wollen. Einige von ihnen plappern, einige schweigen, einige schauen sich ungeduldig nach der Person um, die gleich eine Liste an die Wand hĂ€ngen wird.

Die Liste, die die Zukunft in einem knappen Jahr voraussagen wird. Die Liste, die zeigt, ob man das nĂ€chste Wintersemester im kalten Heidelberg oder an einem vielleicht noch kĂ€lteren Ort verbringen wird. Die Liste, auf die rund 75 Anglistik-Studenten in den letzten Monaten gewartet haben. Und entweder wird ihr Name neben ihrem gewĂŒnschten Ort stehen, unterstrichen sein oder auf der Liste fehlen. Leider ist die Liste kein Plakat, das alle Studenten gleichzeitig sehen können, sondern umfasst nur ein bis zwei DIN A4-Seiten.

Ich höre die ersten Jubelschreie, sehe die ersten enttĂ€uschten Gesichter und bekomme den Weg von jenen versperrt, die nicht wissen, ob sie nun AuswahlgesprĂ€che fĂŒr den gewĂŒnschten Platz auf sich nehmen, ein weiteres Jahr warten, oder hinauf in den dritten Stock rennen sollen, um noch einen der Last-Minute-PlĂ€tze abzustauben. Zehn FĂŒĂŸe spĂŒre ich auf den meinen, 100 Minuten scheint mir der Gang zur Liste zu dauern und 1000 Gedanken schießen mir durch den Kopf. Mein Herz klopft und ich werde mir bewusst, wie festgelegt mein Leben im nĂ€chsten Jahr sein wird – oder auch nicht. Ich suche nach Bristol, der Uni, fĂŒr die ich mich beworben habe. Daneben steht mein Name: unterstrichen. Und damit gehöre ich zur letztgenannten Gruppe. Will ich nun Idealist oder Opportunist sein?

Ich entschied mich fĂŒr Opportunismus. Organisieren musste ich mich bis zum Tag meiner Ausreise fast nichts: die Wohnung suchte mir meine Uni in Stockholm, die Kurse konnte ich vor Ort wĂ€hlen, nur den Flug musste ich selbst buchen. Als ich mit Fragezeichen in den Augen in den Flieger in Richtung Norden stieg, wusste ich noch nicht, was mir blĂŒhen wĂŒrde: Schwimmen in der eiskalten Ostsee bei Sonnenaufgang, Schwierigkeiten mit dem Wohnheim, Schweinegrippe – all das nahm ich gerne fĂŒr die restlichen Erfahrungen in Kauf, die ich dort sammeln sollte. Denn ich ging auf Reisen nach Lappland und in die Fjorde, in schwedischen Villen Partys feiern und lernte dabei viele Menschen, nicht nur aus Stockholm, sondern aus aller Welt kennen, und vielleicht auch eine Hand voll Freunde fĂŒrs Leben.

Damals vor zwei Jahren, gehörte ich zu 115.000 deutschen Studenten, die sich fĂŒr mindestens ein Semester ins Ausland wagten. Darunter waren sowohl Austauschstudenten, die mit ERASMUS oder einem anderen Stipendium nur fĂŒr ein bis zwei Semester die Grenzen passierten als auch solche, die sich gleich fĂŒr einen gesamten Studiengang im Ausland immatrikulierten.

Doch woran liegt das? Das Statistische Bundesamt hat eine Studie zum Thema „Deutsche Studierende im Ausland“ fĂŒr die Jahre 1999 bis 2011 durchgefĂŒhrt. Udo Kleinegees war an der Studie beteiligt und vermutet: „Am wichtigsten bei der Entscheidung ist wohl der Numerus Clausus, der in LĂ€ndern wie Österreich nicht vorhanden ist. Dadurch wirkt dieses Land zum Beispiel attraktiver, da Studenten so die Warteschlange umgehen können.“ Dies ist am hĂ€ufigsten bei NC-FĂ€chern wie Medizin und Psychologie der Fall.

Auch fĂŒr das Master-Studium entscheiden sich viele Studenten, ihre Heimat zu verlassen: Etwa jeder 20. Bachelor geht dann ins Ausland. Laut einer anderen Hochschulstudie sehen 54 Prozent davon in den auslĂ€ndischen StudiengĂ€ngen eine bessere StudienqualitĂ€t, 53 Prozent ziehen das Ausland fĂŒr einen Master-Studiengang vor, der in Deutschland nicht angeboten wird.

28 Prozent haben persönliche GrĂŒnde und 8 Prozent entschließen sich dazu, weil ihre jetzige Uni Zugangs- und Zulassungsvoraussetzungen hat, denen sie nicht gerecht werden können – zum Beispiel einen zu hohen NC.
Letzteres war fĂŒr Isabel nicht mal ein Hauptgrund. Sie wollte ihren Master of Arts in „Sprachen und Kulturen der Iberoromania“ in Wien studieren, „weil solch ein interessanter Studiengang nirgendwo in Deutschland angeboten wird“. Eine attraktive Umgebung und die gleiche Sprache waren ĂŒberzeugend, und die Tatsache, dass die Uni Wien keine StudiengebĂŒhren verlangt, ein toller Nebeneffekt.

Kleinegees rechnet damit, dass es jĂ€hrlich immer mehr werden: „Schon allein jetzt gibt es 2,2 Millionen Studenten und anhand der Zeitreihe lĂ€sst sich ein kontinuierlicher Anstieg feststellen.“

1999 waren es noch 50.000 Studenten, die ins Ausland gingen. Im gleichen Jahr unterzeichneten 29 europÀische Bildungsminister die Bologna-ErklÀrung: Bis zum Jahre 2010 sollte es einen einheitlichen EuropÀischen Hochschulraum geben. Mit anderen Worten: Bachelor und Master sollen Magister und Diplom in Deutschland ablösen und somit dem internationalen Standard entsprechen.

Die Bologna-ErklĂ€rung soll die Grenzen innerhalb Europas fĂŒr Studenten und Wissenschaftler öffnen. Studenten sollen studieren können, wo auch immer es ihnen beliebt, egal ob innner- oder außerhalb des Heimatlandes. Dies zeigte Wirkung: im Jahre 2008 hatte sich die Zahl der entsprechenden Studenten auf 100.000 verdoppelt.

Isabel hĂ€tte sich auch vorstellen können, ihr Studium in Deutschland fortzusetzen. Beworben hatte sie sich an sieben Unis, sechs davon mit Sitz in Deutschland. Die UniversitĂ€t Wien reizte sie jedoch am meisten. Allerdings musste sie eine gewisse Wartezeit in Kauf nehmen: „Jeder in Deutschland bewirbt sich fĂŒr den Master, noch wĂ€hrend er die Bachelor-Arbeit schreibt. In der Verwaltung von österreichischen Unis schauen sie sich deine Bewerbungsunterlagen erst an, wenn dein Zeugnis vorliegt. Du weißt also lange Zeit nicht, ob du dort ĂŒberhaupt Chancen auf einen Studienplatz haben wirst.“

Vor vier Wochen hat die Vorlesungszeit in Wien begonnen. Isabel wartet noch immer auf den Zulassungsbescheid – oder vielmehr auf das Ablehnungsschreiben. „Ich hatte schon eine Wohnung gefunden. Um diese erst mal zu finden, musste ich 600 Euro fĂŒr zwei Reisen nach Wien ausgeben. Zum GlĂŒck konnte ich dort bei Freunden unterkommen und mir so die Kosten fĂŒr eine Herberge sparen.“

Isabels Beispiel wird vermutlich kein Einzelfall bleiben. Laut Statistischem Bundesamt â€žĂŒberschwemmten“ vor drei Jahren 23.000 Deutsche die Unis in Österreich. Manche Einheimische stehen dem Bewerberansturm von Deutschen skeptisch gegenĂŒber. „Da kommen dann schon mal SprĂŒche wie ‚Bist du zu schlecht, um zu Hause studieren zu können?‘“, erzĂ€hlt Isabel.

Einige AlpenlĂ€ndler sĂ€hen es als „Bedrohung“ an und befĂŒrchteten, ihnen wĂŒrden StudienplĂ€tze weggenommen. Der „Überschwemmung“ durch „NC-FlĂŒchtlinge“ will die Regierung nun Einhalt gebieten: An den Medizin-UniversitĂ€ten in Wien, Graz und Innsbruck sind drei Viertel aller StudienplĂ€tze den österreichischen Studenten vorbehalten.

Auch in der Schweiz gibt es spezielle Regelungen: Dort haben die Hochschulen die Erlaubnis bekommen, Quoten und Zulassungstests fĂŒr und erhöhte StudiengebĂŒhren von auslĂ€ndischen Studenten einzufĂŒhren. Realisiert wurde dieses Vorhaben bereits an der UniversitĂ€t Sankt Gallen. Höchstens 25 Prozent aller dort eingeschriebenen Studenten dĂŒrfen aus dem Ausland kommen und ebendiese mĂŒssen auch erhöhte StudiengebĂŒhren zahlen.

In DĂ€nemark herrscht ebenso Alarmbereitschaft: Dort hat die Regierung entschieden, dass die Zahl der auslĂ€ndischen Studenten in dĂ€nischen Hochschulen in Zukunft nur noch so hoch sein darf wie die Zahl der DĂ€nen, die fĂŒrs Studium auswandern. Im Vergleich dazu: 185.000 auslĂ€ndische Studenten waren letztes Jahr in deutschen Unis immatrikuliert und ĂŒbertrafen damit eindeutig die Zahl der deutschen Studenten, die ins Ausland gehen.

Trotz alledem lĂ€sst sich Isabel von den PlĂ€nen der Unis der NachbarlĂ€nder nicht abschrecken. FĂŒr nĂ€chstes Semester wird sie sich noch einmal ihr GlĂŒck in Wien versuchen. Und mit ihr viele Deutsche mehr, denn einen Master wird es in Deutschland bekanntlich nicht fĂŒr jeden Bachelor geben.

von Corinna Lenz
   

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