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Verschiedenes


Rumänien träumt noch

Eine Begegnung zwischen Studenten aus Ost und West

Im Rahmen einer dreiwöchigen Exkursion einer Gruppe von Studierenden der osteuropäischen Geschichte nach Rumänien fand eine Begegnung mit Geschichtsstudenten in Jassy statt, die für die Heidelberger zu einem der prägendsten Erlebnisse der Reise wurde.

"Dreckiger als Dreck" nennen die Studenten in Jassy ihre Kneipen. Ironisch und auch ein bißchen stolz auf ihr "eigenes Reich", nehmen sie uns in eine der Baracken auf dem Campus mit, in denen bei düster-staubigem Licht ein paar Hocker um eine Art Bar herumgestellt sind. In der Mitte steht ein von Jugendlichen umlagerter, verschimmelter Billiardtisch, aus einer Ecke am Tresen kommen vage erkennbare "amerikanische" Hits aus einem alten Kassettenrecorder. Wir sollen uns setzen. Jetzt wird erst einmal eine Runde "Zuika" ausgegeben. Der traditionell-rumänische Pflaumenschnaps wärmt schön von innen; denn die dünnen Blechwände der Baracken schützen nicht vor der Kälte der Märznacht. Die Studenten aus Jassy bitten uns, zu erzählen: Alles wollen sie wissen, alles interessiert sie. Besuch aus dem Westen ist selten, und soll man das, was man aus dem Fernsehen vom Westen weiß, alles glauben? Wie spielt sich denn dort das Studentenleben ab? Darf man sich in der Öffentlichkeit küssen? Wieviel kostet ein Mercedes, und was verdient ein "deutscher Mensch" so im Durchschnitt...?

Die allerwenigsten waren schon mal im Westen, und alle träumen davon. Aber ernst nehmen sie ihn selbst nicht, ihren Traum. Es ist zu schwierig, ihn wahr zu machen, denn wenn man die Unmöglichkeit überwunden hat, sich das Geld zusammenzusparen, dann fehlt die Einladung und der Bürge im Westen, ohne den es keine rumänische Ausreisegenehmigung und kein Visum gibt... Die Hoffnung, einmal herauszukommen aus ihrem "Loch", haben die meisten schon aufgegeben, die Perspektiven, die sich mit der Wende im November 1989 kurz erahnen ließen, sind wieder verlorengegangen. Der "Westen" interessiert sich nicht für sie. Andere osteuropäische Länder sind politisch stabiler und wirtschaftlich wesentlich attraktiver für westliche Investoren. Und trotzdem sind vor allem in Bukarest die Spuren des Kapitalismus nicht zu übersehen: Coca-Cola wirbt überall und ist auch überall zu haben, McDonald's Filialen sprießen aus Bukarests Boden, das Hilton setzt sich mitten ins Herz der Altstadt. Doch die Studenten möchten etwas anderes: Sie streben nach Wissen, wollen sich weiterbilden, ihren Horizont über das Gebiet Osteuropas hinaus erweitern...

Es sind noch Freunde von Vasile, Andruschea, Richard, Julian, Lolly und Laura dazugekommen. Wir trinken mit ihnen auf ewige Freundschaft - werden wir uns je wiedersehen? Als Gäste und Freunde werden wir so herzlich aufgenommen, daß wir vergessen, bis zu diesem Abend nur Tourist gewesen zu sein.

Auf Tourismus als Geldquelle ist Rumänien noch nicht eingestellt. Die Hotels, ehemals nur für Parteimitglieder, sind für Normalreisende völlig überteuert, und Jugendherbergen gibt es noch nicht. Bahn- und Busreisen sind nur beschränkt möglich und mit erheblichem Organisationsaufwand verbunden. Die einst sehr schönen und gepflegten Urlaubsorte in den Karpaten und am schwarzen Meer, das ehemalige Pendant zu Mallorca und Zermatt, sind heute verwahrlost und verlassen. Doch woher die Geldmittel zu Wiederaufbau, Werbung und Betrieb nehmen?

Unsere Gastgeber zeigen uns ein Studentenwohnheim, in dem Julians Freundin Laura wohnt: sechs oder acht Betten in einem Zimmer, in der Mitte ein winzigkleiner Tisch. "Natürlich muß man hier die eigenen Bedürfnisse ganz hinten anstellen, aber wir kennen es nicht anders. Bis sechs Uhr abends kann man in der Bibliothek lernen und lesen. Wenn man dann noch alleine sein will, muß man halt spazierengehen..." Auf der anderen Seite des Campus ist das Wohnheim für die Jungs, dazwischen ein Park mit Bänken - hier wird gelesen, gelernt, geschmust und über Politik diskutiert. Richard und Lolly erklären uns ihre Sicht der Lage: Der Wunsch der Menschen nach einer tatkräftig- fortschrittlichen Regierung wurde von Resignation abgelöst. Nach dem Sturz von Ceaucescus Schreckensregime vertraute man der neuen Regierung erleichtert. Die Neokommunisten mit Iliescu an der Spitze schafften es, das Vertrauen und die Hoffnung auf ein besseres Leben schnell zunichte zu machen. Vor allem junge Menschen steckten sich daraufhin ein Bildnis von König Mihai an die Jacke, mit der Überzeugung, nur ein König, der sein Volk liebe, könne alles wieder gut machen. Eigeninitiative, Kritik, Opposition - Begriffe und Einstellungen, die nie "gelernt" worden sind, da die Häscher der Securitate jegliche oppositionelle Regungen mit spurlosem Verschwindenlassen bestraften. Die neue Regierung Constantin-escus hat es jetzt schwer, mit ihrem Autoritätskurs Vertrauen zu gewinnen. Vieles hat sich zum Besseren gewandt in den letzten acht Jahren: an erster Stelle steht die Freiheit der Gedanken. Es gibt keine Zensur mehr - es darf geredet, geschrieben, veröffentlicht werden. Wenn man nur die finanziellen Möglichkeiten hätte.

Wie es weitergehen wird mit Rumänien, ist schwer vorauszusagen; doch mit Hilfe seiner Bodenschätze und den übermäßig gut ausgebildeten Menschen, hat das Land die nötigen Grundvoraussetzungen, wieder so blühend zu werden, wie es vor hundert Jahren einmal war. Aber die Studenten im "Dreckiger als Dreck" haben ihren Spaß, sind fröhlich und singen uns Lieder der rumänischen Band "Pasara Colibri" vor. Sie erklären uns die politischen und historischen, immer Rumänien betreffenden Liedtexte, und sind trotz allem stolz darauf, Rumänen zu sein.

Maja Heidenreich


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