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 Interview
20.01.2009

"Es reicht nicht mehr für alle"

Hermann Scheer, Präsident von Eurosolar, über die Energiewende

Der SPD-Politiker fordert eine Energierevolution. Ihm zufolge könnte jedes Land in wenigen Jahren seinen Energiebedarf durch regenerative Formen decken -  wenn Energiewirtschaft und Politik dies nicht blockieren würden.

Herr Scheer, warum brauchen wir eine Wende in der Energiepolitik, eine Energierevolution?

Herkömmliche Energievorkommen gehen zur Neige. Und das schneller als viele denken, mit umfassenden Folgen bis in die internationale Politik. Die Botschaft ist: Es reicht nicht mehr für alle! Doch der Weltenergiebedarf wächst. Allen voran in China und Indien, wo ein Drittel der Weltbevölkerung lebt. Und ohne Energie geht bekanntlich nichts. Sie ist der Kern aller wirtschaftlichen Aktivitäten, also der Umwandlung von Stoffen im Rohzustand in Produkte mit Hilfe von Energie.

Also?

Der gesamte ökonomische Prozess beruht heute vorwiegend auf nicht-erneuerbaren Ressourcen. Nun kommen wir aber ans Ende der Möglichkeiten. Das wird gerne verdrängt, weil der Wechsel zu erneuerbaren Ressourcen die größte und umfassendste Herausforderung darstellt, die die Weltwirtschaft je gesehen hat. Und das hat nicht mal zwingend mit Umweltproblemen zu tun.

Dieses Problem ist sozusagen die aktuelle Grundlage unseres Wirtschaftens?

Ja! Und das Umweltproblem verschärft dies. Selbst wenn alle Recht hätten, die behaupten, wenn man nur tiefer nach Öl bohrt, gäbe es noch Spielräume für die herkömmliche Ressourcennutzung: Es würde nichts nützen, weil die Umweltprobleme der Umwandlung dieser nicht-erneuerbaren Ressourcen die Ökosphäre bereits jetzt überstrapazieren.

Die Ökosphäre setzt das Limit?

Wir haben es mit einem Ressourcenlimit und mit einem ökologischen Limit zu tun. Daher müssen wir in den kommenden drei Jahrzehnten den Wechsel zu erneuerbaren Energien schaffen. Das ist die weltzivilisatorische Schlüsselaufgabe.

Wie soll die „Energiewende“ aussehen?

Es geht um den vollständigen Wechsel von nicht-erneuerbaren zu erneuerbaren Energien. Nur zehn oder zwanzig Prozent bedeutet lediglich einen Aufschub. Allein auf Energieeffizienz zu setzen bedeutet nicht mehr, als sich Zeit zu kaufen.

Kritiker behaupten, dass man nur durch Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke und CO2-freie Kohlekraftwerke den Klimawandel in den Griff bekommen könne.

Die Frage ist, welchen Realismusbegriff diese Leute haben. Es gibt zwei verschiedene Verständnisse von Realismus. Das eine ist gegenwärtige Konstellationen zu akzeptieren und peu à peu die Entwicklung in eine andere Richtung zu drängen. Dafür haben wir aber nicht mehr genug Zeit. Das andere Realismusverständnis ist das, was ich hochhalte, also auf die reale Problemlage eine adäquate Antwort zu finden, anstatt weiter herumzuwursteln.

Doch hier sagen Ihre Kritiker, dass die erneuerbaren Energien noch nicht bereit seien, weshalb man jetzt noch die Atomkraft brauche.

Dass sie noch nicht bereit wären, ist Quatsch. Nichts ist schneller einführbar als erneuerbare Energien, weil der Infrastrukturbedarf für sie geringer ist und die Installationszeiten mit Abstand die kürzesten sind. Man muss allerdings den Strukturwandel akzeptieren, der dafür notwendig ist.

Sind die Strukturen überhaupt wandelbar?


Es geht nicht um den Wandel der jetzigen Strukturen. Es geht um den Aufbau neuer Strukturen.

Wir haben aber nun mal diese Strukturen.

Ja, die haben wir. Aber in keiner Verfassung steht geschrieben, dass die heutigen Energieversorger auch morgen die Energieversorgung realisieren müssen. Die Energiewirtschaft hat keinen Verfassungsrang. Es gibt jedoch massive wirtschaftliche Interessen der derzeit großen Energieversorger.

Sind die unberechtigt?

Das ist der Widerspruch zwischen einzelwirtschaftlichem und gesamtgesellschaftlichem Interesse. Die politische Aufgabe ist es im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu handeln. Die Energiewirtschaft wird immer versuchen diesen Strukturwandel aufzuschieben, weil sie ihre Investitionen bisher fast ausschließlich auf die herkömmliche Energieversorgung ausgerichtet hat. Es wird nicht ohne Kapitalvernichtung gehen, wenn wir den Wettlauf mit der Zeit gewinnen wollen.

In Ihrem Buch „Energieautonomie“ beschreiben Sie die Blockaden und Hemmnisse beim Umstieg auf erneuerbare Energien. Wie sind diese Blockaden zu überwinden?

Indem entsprechende politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die erneuerbaren Energien und den Investoren ihren Entfaltungsspielraum geben. Wenn ich sage, dass die Monopolrolle der heutigen Energiewirtschaft keinen Verfassungsrang hat, heißt das: Wir brauchen neue Spieler. Als der Computer aufkam, hat auch niemand gesagt: „Wir müssen die Einführung aufschieben, damit die Hersteller von Schreibmaschinen geschützt bleiben.“ Jeder Ökonom, der das gesagt hätte, hätte sich lächerlich gemacht. Aber ein solch lächerliches Argument gilt als selbstverständlich, wenn es um Energieversorgung geht. Die heutige Energiewirtschaft hat neben ihrem wirtschaftlichen Monopol auch eine Art Monopol in den Köpfen erreicht. Das muss aufgebrochen werden.

Wie kann man die Bevölkerung von der Energiewende überzeugen?


Die Bevölkerung ist gar nicht das Problem. Mehr als 80 Prozent sind für den Ausbau erneuerbarer Energien, während nicht mal zehn Prozent für neue Kohle- oder Atomkraftwerke sind. Die Bevölkerung ist also gewinnbar, aber sie wird immer wieder systematisch verunsichert. Die Energiewirtschaft behauptet, dass das Potenzial erneuerbarer Energien nicht ausreiche. Daraus leitet sie die Rechtfertigung ab, auch in Zukunft neue Kohlekraftwerke zu bauen oder die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern. Würden sie zugeben, dass das Potenzial erneuerbarer Energien ausreicht, um den Energiewechsel zu vollziehen, würde diese Rechtfertigung in sich zusammenbrechen.

Sie sagen, dass die Energiewirtschaft die Entwicklung blockiert und die Politik die Initiative zur Energiewende geben soll. Ist die Politik dazu überhaupt in der Lage?


Ja. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat technologisch wie wirtschaftlich bewiesen, dass der Wechsel viel schneller gehen kann, als die meisten Energieexperten behauptet haben. Alleine die 2007 und 2008 neu hinzugekommenen Kapazitäten zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien machen fünf Prozent der deutschen Stromversorgung aus. Das ist in nur zwei Jahren passiert. Wenn man den Zuwachs fortsetzen würde, kann man sich ausrechnen, dass wir von jetzt 18 Prozent im Jahr 2035 bei 100 Prozent angelangt wären. Was in den letzten zwei Jahren gewachsen ist, ist ein empirischer Beleg für die Kraft politischer Initiative. Ich gebe Ihnen einen zweiten Beleg: In Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen liegt der Anteil der Stromversorgung aus Windkraft bei mehr als 30 Prozent. In Hessen sind es aber nur 1,8 Prozent, in Bayern und Baden-Württemberg nur 0,5 Prozent. Das kann man mit geografischen Gründen nicht erklären.

Das Hauptargument der Gegner ist, dass der Wind nicht überall gleich wehe.

Das ist doch offenkundiger Unsinn. Brandenburg hat keine Küste und Sachsen-Anhalt auch nicht. Das sind reine Binnenländer. Es ist eine Schutzbehauptung, die vom wirklichen Grund ablenkt, nämlich dass es eine systematische Genehmigungsverweigerung für Standorte gibt. Das ist Politik.

Wie kann man energiehungrige Staaten wie China und Indien überzeugen, dass die Energiewende technisch, finanziell und wirtschaftlich machbar ist?

Genauso, wie es in Deutschland geschieht. Wir haben es mit einer uniformierten Energiewirtschaft im weltweiten Maßstab zu tun. Uniformiert durch die einseitige „Es reicht nicht mehr für alle“ Fixierung, die 100 Jahre lang galt: Zunächst auf fossile Energien und dann in den letzten fünfzig Jahren auch auf Atomenergie. Dabei hat man erneuerbare Energien völlig unterschätzt oder ignoriert.

China investiert derzeit Milliarden in neue Atom- und Kohlekraftwerke.

Ja. Sie machen dort dasselbe, wie wir es hier immer gemacht haben. Daher kommt man auch in China aus dem herkömmlichen Energiedenken heraus immer wieder zu den selben alten  Antworten.

Sind erneuerbare Energien wirklich für alle Staaten eine realistische Alternative?

Sie haben bei erneuerbarer Energie zwangsläufig eine Energiediversität, die sich aus den unterschiedlichen geografischen Bedingungen ergibt. Davon hängt ab, welche erneuerbaren Energien vorrangig zur Geltung kommen können. Nehmen Sie Österreich. Dort nutzt man traditionell Wasserkraft. Heute deckt sich etwa 70 Prozent der österreichischen Stromnachfrage aus Wasserkraft. Aus der Kombination der vorhandenen Wasserkraft mit der Windkraft zum Beispiel könnte man in zwei oder drei Jahren auf 100 Prozent kommen. Das kann niemand widerlegen. Österreich bräuchte etwa 1500 neue Windkraftanlagen und dann wäre der Fall geregelt. Wo ist das grundlegende Problem?

Sie waren ein politisch sehr aktiver Student. Was können Studenten heute tun, um die Energiewende voranzutreiben?


Das Wichtigste ist zu erkennen, dass die Energiewende möglich ist. Und die Argumente nicht mehr zu akzeptieren, die immer wieder hervorgebracht werden, um die Entwicklung hinzuhalten.
Jeder ist Staatsbürger. Und als solcher ist man ein  Multiplikator, der dazu beiträgt, dass ein öffentlicher Druck entsteht. Dieser schlägt sich dann auf die Politik nieder und sorgt dafür, dass endlich politisch anders entschieden wird, die Ausreden aufhören und die Koalition der Aufschieber kein Gehör mehr findet. Das kann jeder und das kostet keine Investitionsmittel.

Es geht also darum das Bewusstsein zu schärfen?

Wenn dieses Bewusstsein entsteht, werden immer mehr ihren Beitrag leisten können. Diesen Beitrag kann man als Lehrer leisten, indem man in technischen Berufen in diesem Sinne handelt oder auch als Konsument. Das sind die individuellen
Spielräume. Aber der wichtigste Punkt ist die Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen.

Das wäre dann der umgedrehte Marx: Das Bewusstsein muss das Sein bestimmen!

Ja, das ist richtig.

Herr Scheer, vielen Dank für das Gespräch!



Das Gespräch führte Andreas Hofem

von Andreas Hofem
   

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