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 Interview
10.11.2009

„Die Politik sortiert wieder“

Juli Zeh im großen ruprecht-Interview

Juli Zehs aktueller Roman "Corpus Delicti" handelt von einer Gesundheitsdiktatur in der die bürgerlichen Freiheiten abgeschafft sind. Im ruprecht-Interview macht sie sich Gedanken über Menschenbilder, Solidarität und Terrorgefahr. 

ruprecht: In „Corpus Delicti“ wird das Erhalten der Gesundheit zur Bürgerpflicht erhoben. Rauchen ist strafbar. Siehst du heute schon ähnliche Entwicklungen?

Juli Zeh: Ja. Im Moment stehen wir noch am Anfang, beim Rauchen sieht man es schon. Als nächstes könnte wieder eine Art Prohibition folgen, also dass Alkohol restriktiver gehandhabt wird. In der Krankenkassenpolitik wird versucht zwischen Leuten, die zu einer Risikogruppe gehören, und Gesunden zu sortieren. Die einen sollen dann mehr zahlen als die anderen.

Diese Risikogruppen sind immer Minderheiten, die du identifizieren kannst: Raucher, über die Schwulen wird wegen der AIDS-Infektionen schon diskutiert. Dann Risikosportarten wie Skifahren oder Reiten. Dabei ist Stress unser größter Risikofaktor. Wenn wir ehrlich mit diesem Thema umgehen würden, müssten wir Leute, die acht Stunden am Tag arbeiten, in die allergrößte Risikogruppe stecken. Das sind die, die krank werden. Du müsstest ein Gesetz erlassen in dem drinsteht: „Jeder muss pro Woche drei Tage frei machen und eine Stunde zum Entspannen in der Badewanne liegen“.

Dahinter steht ein Denken, das sich von der Solidarität verabschiedet hat und besagt: „Es gibt bestimmte Regeln, an die man sich halten muss. Wer das nicht tut und krank wird, hat Schuld auf sich geladen. Dann ist es nur gerecht, wenn der mehr zahlt.“ Das setzt schon einen total falschen Gesundheitsbegriff voraus.

Wie soll man die steigenden Kosten des Gesundheitssystems sonst in den Griff kriegen?


Das ist eine Frage der Prioritäten. Wir müssen uns das halt leisten wollen. Wir leisten uns auch andere Sachen, die unglaublich teuer sind, von Autobahnen über den Verteidigungsetat bis in alle Gesellschaftsbereiche hinein. Die Frage ist immer nur: wer bezahlt es? Wir können uns das Gesundheitssystem leisten und sind nicht ehrlich, wenn wir darüber reden, was Menschen eigentlich krank macht.

Maßnahmen wie die Einführung einer neuen Gesundheitskarte könnten das Gesundheitssystem angeblich effektiver machen und Milliarden sparen. Ist das falsch?


So wie die Praxisgebühr, die auch „Milliarden“ gebracht hat. Diese Gesundheitskarte steht nicht nur für sich. Sie ist der Beginn eines größeren Prozesses, bei dem die Gesundheitsdaten, die Steuerdaten und die Reisedaten zentral vereinigt werden sollen. Dazu gehören ja auch beispielsweise psychologisches und psychiatrisches oder dein Familienstand, also ob du Kinder hast, ob Du geschieden bist, alles. Dann gibt es eigentlich kaum noch einen Bereich, den Du nicht erfassen kannst, bis ins Sexualleben.

Die Steueridentifikationsnummer haben wir schon. Säuglinge kriegen jetzt diese 16-stellige Nummer verpasst, und die Idee ist, unter dieser Kennziffer alle diese Daten abrufbar zu machen. Also dann ist George Orwell wirklich Realität. Und auch das System aus „Corpus Delicti“.

So wie darin die Gesundheit des Menschen als höchstes staatliches Gut zu definieren, erscheint durchaus legitim.


Ist es aber nicht, weil das Menschenbild dahinter falsch ist. In einer Demokratie ist der Mensch ein Individuum und weiß selber, was gut für ihn ist. Der Staat greift nur ein, wenn Menschen einander schaden, aber nicht, wenn sie sich selber schaden. Das geht niemanden was an. Deswegen haben wir Grundrechte, die Eingriffe des Staates abwehren.

Ein Staat, der dein Wohlbefinden und dein Glück anstrebt, unterwirft dich einer kompletten Normierung. Er muss dann nämlich für alle definieren, was Glück ist. Wenn du sagst: mich macht es glücklich, jeden Tag fünf Joints zu rauchen, 150 Kilo zu wiegen, oder jeden Tag mit 30 Frauen Geschlechtsverkehr zu haben, dann sagt der Staat: „Nein, das macht dich nicht glücklich! Wir sagen dir: jeden Tag eine Stunde joggen gehen, nur fettarme Butter essen und so weiter“. Das ist das Problem. Du kannst nichts zum Staatsziel erheben, was rein individueller Definition unterliegt, das wäre totalitär. Alle totalitären Systeme haben gesagt: „Wir sorgen für das Glück des Volkes und wissen, was das ist“. Vor allem im Sozialismus ist das gut zu sehen.

In den letzten Jahren haben sich die Datenskandale gehäuft. Warum machen die Bürger das mit?

Das ist in der Tat verwunderlich. 1983, das ist noch nicht lange her, wollte die Regierung eine Volkszählung durchführen. Die Leute sollten dafür nur ihren Namen, ihr Geschlecht und ihre Religionszugehörigkeit angeben. Damals gab es einen Aufschrei und große Demonstrationen.

Zwanzig Jahre später sind die Menschen bereit, sich komplett nackig ausziehen zu lassen. Vielleicht glauben sie seit dem 11. September, sie müssten etwas tun, weil unser Staat in Gefahr sei. Vieles wird mit Sicherheitsargumenten begründet, zum Beispiel Maßnahmen zur Terrorbekämpfung, obwohl der Zusammenhang da völlig unklar ist.

Vielleicht sind sie auch durch das Internet dazu erzogen worden, dauernd Daten abzugeben. Schon wenn du bei E-Bay einkaufst, gibst du deine Adresse, Namen und Geburtsdatum an. Dafür kriegst du die Ware nach Hause gebracht. Dieser Service-Gedanke hat das Verständnis von Selbstschutz abgelöst. Den Menschen ist nicht klar, was Daten wert sind. Für einen Datensatz, der nur Namen und Adresse enthält, wird auf dem Markt viel gezahlt.

Was muss passieren, bevor dieses Verständnis für den Datenschutz entsteht?

Dieses Bewusstsein könnte entstehen, wenn immer mehr Menschen persönlich betroffen sind. Ich mache mir aber viel mehr Sorgen darüber, dass sich zur Zeit das Verhältnis von Staat und Bürger generell verändert. Die Politik hat wieder angefangen zu sortieren. In der Terrorbekämpfung gibt es die Guten und die Bösen, Menschen mit vollen Rechten und solche mit nicht ganz so vielen. Die Leute sagen ständig: „Aber das sind doch Terroristen!“ Ich antworte dann immer: „Das wisst ihr nicht, es gilt die Unschuldsvermutung. In Deutschland ist noch kein einziger Terrorist verurteilt worden.“ Da steckt eine viel größere Denkblockade als beim Datenschutz.

Warum sind die Politiker in dieses Gut-Böse-Schema so vernarrt?

Wovor eigentlich alle Innenminister Angst haben ist, dass etwas passiert und ihnen dann gesagt wird: „Ihr habt aber nicht alles getan, um das zu verhindern.“ Deswegen beweisen sie lieber vorher, dass sie alles tun. Sie prophezeihen jedes mögliche Unglück, damit sie hinterher sagen können: „Ich habe davor gewarnt!“ Das hat man dieses Jahr wieder schön im Bundestagswahlkampf gesehen. Alle zwei Tage wurde gesagt, Al-Kaida drohe wegen Afghanistan mit Terroranschlägen. Das Oktoberfest wurde komplett mit Sicherheitskräften abgeriegelt. In München war Endzeitszenario.

Ist so etwas angesichts der Terrorgefahr nicht erforderlich?

Erforderlich wären Besonnenheit und vernünftiges Nachdenken, kein überhastetes Handeln bei unzureichender Faktenlage. Wie die Gesetzgebung der letzten Jahre nach dem 11. September ablief, ist lachhaft. Als Jurist kann man die Gültigkeit dieser Gesetze allein aufgrund ihres Verfahrens in Zweifel ziehen.

Die Abgeordneten haben zum Teil einen Abend vor der Abstimmung Gesetzesentwürfe von 1000 Seiten Länge gekriegt, denn: 11. September ist passiert und einen Monat später soll das Gesetz fertig sein. Wie möchte man in diesem Zeitraum vernünftig überlegen, was eigentlich das Problem ist?

Woher kommt denn diese Eile?


Seit einiger Zeit müssen Politiker ständig Handlungsfähigkeit beweisen. Das liegt an der Funktionsweise unseres Staats- und Mediensystems. Du musst auf alles sofort reagieren und den starken Macker machen. Nach einer Videobotschaft im Internet stehen gleich fünfmal mehr Polizisten am Flughafen. Dass kein Polizist einen Terroranschlag verhindern kann, wissen auch die Politiker. Das sind politische Symbole, die in einer Mediendemokratie nun mal wichtig sind.

Langfristiges Denken und sorgsames Abwägen sind in diesem System kaum durchführbar, weil die Zeit nicht da ist. Deswegen werden in der Politik häufig gar nicht die eigentlichen Probleme angegangen sondern solche, die gar keine sind, bei denen aber schnell eingegriffen und Ergebnisse vorgewiesen werden kann. Das ist in unserem System leider immanent. Die Politiker sind ständig gezwungen, vor die Medien zu treten und was vorzuweisen weil ihnen sonst nachsagen würde, sie würden nichts tun. Eigentlich sollte das ein Selbstreinigungsprozess sein. Die Öffentlichkeit kontrolliert, was die Politiker machen.

Funktioniert das nicht?


Es ist aus der Balance geraten. Die FDP-Dame Hildegard Hamm-Brücher hat mir mal erzählt, dass wenn Du vor 30 bis 40 Jahren als Politiker ein Interview gegeben hast, der Journalist sich dafür ein bis zwei Stunden Zeit genommen hat. Du konntest dann erklären, was die Probleme sind, dass sie komplex sind und es deshalb vielleicht nicht so schnell geht. Heute ist das anders, das will man alles gar nicht hören. Die kommen rein und geben Dir 30 Sekunden, in denen Du das Bedürfnis nach einfachen Statements befriedigen musst. Die wollen immer einen markanten Satz, in dem drinsteht: „wir müssen unbedingt dies und das“.

Das liegt an der Geschwindigkeit, die der Medienbetrieb aufgenommen hat. Wir wollen nicht mehr zwei Monate lang über dasselbe Thema reden, das wird uns sofort langweilig. Nach drei Tagen muss das nächste kommen. Das zwingt die Politiker, ihre Meinung stark zu verkürzen.

Die Medien berichten auch nicht mehr kritisch sondern zitieren einfach, was Politiker oder Industrievertreter vorbeten, ohne es zu beleuchten oder nach Hintergründen zu fragen. Als „Meinungsmacher“ kannst du den Medienbetrieb damit sehr gut an der Leine führen, ohne dass dir einer in die Karten guckt.

Woher kommt diese Entwicklung?


Das kann ich nicht sagen, das ist unheimlich kompliziert. Eines kennt aber glaube ich jeder von uns. Seit einigen Jahren hat man ständig das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen. Viele fangen schon als Schüler damit an. Als wir 15 oder 16 waren, war das nicht so. Wir hatten alle Zeit der Welt, wir haben rumgehangen. Es war total cool, wochenlang nichts zu tun. Heute stehen alle unter Stress. Die haben das Gefühl, alles ganz schnell machen zu müssen, weil sie sonst keine Chance mehr haben oder rausfallen.

Das ist ein Ausdruck von Angst. Aber warum wir jetzt so ängstlich sind, ist schwer zu sagen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass uns mit der Wende 1989 wirklich eine ganze Welt unterm Arsch zusammengebrochen ist. Das ist einfach passiert und obwohl es ein freudiger Anlass war, hat es uns glaube ich traumatisiert. Das ist nicht aufgearbeitet. Vielleicht hat das dazu geführt, dass die Leute so verunsichert sind.

Möchtest du den Studenten noch etwas mitgeben?


Sie sollen aufhören sich zu fürchten. Sie sollen daran denken, wie gut es uns allen geht und das Leben genießen und sich auch nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Niemand muss in acht Semestern fertig sein.

Vielen Dank für das Gespräch.


Juli Zeh
„Corpus Delicti Ein Prozess“
Schöfflin & Co. 2009
272 Seiten, gebunden
19,90 Euro

Juli Zeh und Slut
„Corpus Delicti - Eine Schallnovelle“
Strange Ways Records, 2009
CD, 57 min.
18 Euro

 

„Angriff auf die Freiheit“
Hanser 2009
176 Seiten, flexibler Einband
14,90 Euro

 

von Max Mayer und Xiaolei Mu
   

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