06.07.2010
Demokratie und Bürgerwille
Schwachstellen im bürgerlichen Engagement
Bürgerentscheide und Bürgerinitiativen werden momentan auch in Heidelberg als die Rettung der Demokratie gefeiert. Aber gerade diese beiden Formen politischer Teilhabe haben demokratische Schwachstellen, meint Benjamin Jungbluth.
Bürgerentscheide und Bürgerinitiativen werden als die Rettung der Demokratie gefeiert. Aber gerade diese beiden Formen politischer Teilhabe haben demokratische Schwachstellen, meint Benjamin Jungbluth.
Ein schwüler Dienstagabend Ende Juni, Deutschland steht im Viertelfinale der WM und die meisten Heidelberger genießen den Sommer auf der Neckarwiese oder im Schwimmbad. Im Deutsch-Amerikanischen-Institut (DAI) hat sich trotzdem eine große Gruppe Bürger versammelt.
Der Altersdurchschnitt liegt irgendwo jenseits der 60, dennoch gibt es Beck‘s aus der Flasche. Es ist stickig im großen Saal, aber das macht nichts, denn man ist hier nicht zum Vergnügen. Man muss hier sein. Aus Bürgerpflicht. Denn an diesem Abend geht es um nichts Geringeres als um das „Widerstandsrecht“ des Volkes, wie einer der Referenten der Podiumsdiskussion unter Beifall verkündet.
Es geht um Demokratie. Und zwar um Demokratie in ihrer wahren, reinen Form, also um direkte Demokratie. Es geht um den Bürgerentscheid zur Erweiterung der Heidelberger Stadthalle.
Bürgerentscheide gelten im Allgemeinen als ein Ausdruck positiver aktiver Teilhabe der Bürger an der Politik. In ihnen zeigt sich dieser Auffassung nach „der“ Wille des Volkes am unverfälschtesten. Und letztlich dienen demnach Bürgerentscheide auch als Kontrolle der gewählten Volksvertreter.
Warum sind sie also ein so seltenes Ereignis? Warum werden ihnen oftmals hohe Hürden auferlegt, um rechtsgültig zu sein? Das Quorum von 25 Prozent der Wahlberechtigten im Heidelberger Fall wird von den Vertretern der Bürgerinitiativen im DAI einzig als der Versuch angesehen, solche Entscheide grundsätzlich zu verhindern. „Der Staat traut seinen Bürgern nicht!“, erklingt die einhellige Meinung.
Doch liegen die Dinge wirklich so einfach? Bei all der frenetischen Begeisterung für das endlich wieder erwachende demos und die Rettung der Demokratie – Bürgerentscheide und ihre Hauptvertreter, die Bürgerinitiativen, können auch in einem weit weniger schmeichelhaften Licht betrachtet werden. Vielleicht sind sie sogar weit weniger demokratisch, als sie auf den ersten Blick erscheinen.
Bürgerinitiativen gleich welcher Art, unterscheiden sich zunächst einmal von Parteien durch ihre temporäre Ausrichtung auf eine einzige Frage. Das kann die Abschaffung des Lärms grölender Horden in der Altstadt (LindA), die Verhinderung einer Erweiterung der Stadthalle (BIEST) oder die Ablehnung des Teilverkaufs städtischer Wohnungen auf dem Emmertsgrund (Bündnis für den Emmertsgrund) sein.
Auch sind sie weitaus weniger institutionalisiert als Parteien. In der Regel gründet ein kleiner geschlossener, aber aktiver Kreis die Initiative. Eine Wahl des Vorstandes findet nicht statt. Stattdessen gibt der Führungskreis die einzelnen Parolen aus und der Großteil der Unterstützer hilft passiv beispielsweise durch Unterschriftenlisten. Auf Kompromisse in einem politischen Diskurs kann nur begrenzt eingegangen werden, da die Grundinteressen eben sehr spezifisch und Ausgleiche in anderen politischen Themenbereichen nicht möglich sind. Die Frage der Stadthallenerweiterung führt somit zu einem reinen „ganz oder gar nicht“.
Ein Bürgerentscheid vereinfacht komplexe Entscheidungen weiter. Die stimmberechtigten Heidelberger werden Ende Juli nicht darüber abstimmen, wie ein späteres Kongressgebäude aussieht. Sie stimmen nicht darüber ab, ob der von vielen abgelehnte Architekten-Entwurf, von seinen Gegnern als „Dritte-Reich-Architektur“ bezeichnet, in dieser oder anderer Form verwirklicht wird. Sie stimmen nicht darüber ab, ob Heidelberg überhaupt ein Kongresszentrum bekommen soll, in der Altstadt oder am Bahnhof. Sie stimmen lediglich über den Standort neben der Stadthalle am Neckar ab.
Aber wissen das alle Wahlberechtigten? Haben sie sich mit den wirtschaftlichen, verkehrspolitischen und soziologischen Folgen ihrer reinen Ja-Nein-Wahl umfassend oder auch nur ansatzweise auseinandergesetzt? Haben sie mögliche Folgen ihrer Entscheidung und Alternativen in der Stadtplanung umfassend bedacht? Hatten sie dazu die Zeit, die Lust, die tatsächliche Möglichkeit? Sich nach einem langen Arbeitstag in ihrer Freizeit mit den technokratischen Details eines Nutzanbaus in der westlichen Altstadt zu beschäftigen, dürfte für viele Heidelberger kaum von Interesse gewesen sein. Vielleicht fanden sie nur die Fassade des ersten Entwurfs potthässlich.
Natürlich sind auch die gewählten Volksvertreter im Gemeinderat keine idealtypischen Heroen, die allwissend zum Wohle der Bürgerschaft agieren. Sie sind ehrenamtliche Politiker, die in ihrer Freizeit die städtische Politik bestimmen, auch gefangen in parteiinternen Entscheidungszwängen und sicherlich nicht per se kompetenter als andere Bürger.
Dennoch beschäftigen sie sich - und das unterscheidet sie von den Initiatoren einer Bürgerinitiative - mit der Entwicklung der ganzen Stadt. Ob in einer Gasse der Altstadt durch ein Kongresszentrum mehr Verkehr entsteht, ist dabei ein zu beachtender Punkt. Ob die wirtschaftliche Lage vieler Betriebe in der gesamten Stadt wirklich besser wird, wenn mehr Tagungsgäste an den Neckar kommen, hat eine weiter reichende Dimension und betrifft plötzlich auch andere Stadtteile. Es ist eben ein Abwägen vieler Faktoren, das zu einer umfassenden Entscheidung führt. Interessiert das aber die Initiatoren eines Bürgerentscheids?
In den Sozialwissenschaften werden kleine Gruppen, anders als dem Allgemeinverständnis gemäß, eher als durchsetzungsstark angesehen. Sie können sich in vielen Fällen besser organisieren und artikulieren und sind letztlich effektiver. Große Gruppen sind heterogener und müssen verschiedene Vorstellungen in sich vereinen. Handelt es sich gar um die große schweigende Masse, ist eine aktive Artikulation der Interessen nicht zu erwarten. Denn in diesem Fall ist jeder irgendwie betroffen, aber doch nicht soweit individuell gefordert, dass er neben seinem sonstigen Alltag aktiv werden würde.
Daher gibt es in den meisten modernen Staatsformen eingebaute Schwellen bei Abstimmungen. Fünf Prozent aller bundesweiten Stimmen muss eine Partei erreichen, um eine Fraktion im Bundestag zu stellen. 25 Prozent der Stimmberechtigten beträgt das Quorum in Baden-Württemberg, damit ein Bürgerentscheid rechtsgültig ist. Somit ist sichergestellt, dass der Wille einer gut organisierten Minderheit auch dem der Mehrheit der Bevölkerung entspricht.
Gerade dieser Punkt ist der kritischste Einwand gegen Bürgerinitiativen und Bürgerentscheide als Hüter der Demokratie. Die hier organisierten Gruppen verfolgen letztlich recht beliebig individuelle Ziele. Dem Allgemeinwohl in seiner Gesamtheit sind sie hingegen nicht verpflichtet.
Heidelberg bietet bereits ein schönes Beispiel für einen Bürgerentscheid. 2008 plante die Stadtverwaltung zusammen mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GGH, Teile ihrer Wohnungen auf dem Emmertsgrund an einen privaten Investor zu verkaufen. Mit dem Erlös sollten andere Projekte der GGH finanziert werden, um die hohen Renovierungskosten zu decken. Damit die Sozialwohnungen nicht zu reinen Spekulationsobjekten gemacht werden konnten, sollten vertragliche Sozialbindungen festgesetzt werden.
Der Gemeinderat beschloss zunächst den Verkauf. Dagegen formierte sich schnell Widerstand. Die Bürgerinitiative „Bündnis für den Emmertsgrund“ sowie einige Parteien im Gemeinderat wollten einen Bürgerentscheid durchsetzen. Sie scheiterten sowohl beim Bürgerbegehren als auch beim vom Gemeinderat dennoch angesetzten Bürgerentscheid am eigentlich notwendigen Quorum. Trotzdem entschied daraufhin der Gemeinderat, dass die geringe Beteiligung der Bürger nicht etwa eine Ablehnung des Bürgerentscheids an sich bedeutete. Im Gegenteil wurden die öffentlich lauten Stimmen der Verkaufsgegner als ausreichend artikulierter Bürgerwille interpretiert und der Verkauf endgültig abgelehnt. Die GGH muss seitdem verstärkt aus städtischen Mitteln finanziert werden.
Im Februar 2010 wurden auf dem Emmertsgrund 300 Wohnungen einer anderen Heidelberger Wohnungsbaugesellschaft verkauft. Es gab keinerlei Protest, keine Bürgerinitiative, keine öffentliche Diskussion, aber auch keinerlei Informationen, ob dieser Verkauf ähnlich dem geplanten von 2008 überhaupt sozialverträglich geplant war.
Der demokratische Bürgerwille hatte sich in der Altstadt offensichtlich bereits ein anderes, spannenderes Betätigungsfeld gesucht.
von Benjamin Jungbluth