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13.06.2011

Bürgerprotest in Bristol

Anwohner wehren sich gegen die Eröffnung eines Supermarktes

Die Errichtung einer Supermarkt-Filiale im alternativen Stadtteil Bristols stieß auf den erbitterten Widerstand der Anwohner, die den lokalen Einzelhandel bedroht sahen. Es kam zu Aufständen und Straßenschlachten mit der Polizei.


Die Errichtung einer Supermarkt-Filiale im alternativen Stadtteil Bristols stieß auf den erbitterten Widerstand der Anwohner, die den lokalen Einzelhandel bedroht sahen. Es kam zu Aufständen und Straßenschlachten mit der Polizei.

„Welcome to Stokes Croft – Cultural Quarter, Conservation Area, Outdoor Gallery“ (Willkommen in Stokes Croft – Kulturelles Viertel, Denkmalschutzbereich, Freiluft-Galerie) heißt es auf dem Willkommens-Graffiti im Stile eines Ortsschildes, das sich an der Grenze zu dem alternativen Stadtteil Bristols befindet.

Die Einwohner von Stokes Croft verstehen ihr Viertel als kulturelles Zentrum der Stadt. Sie wehren sich seit Jahren gegen kommerzielle Ketten, wollen statt großen Konzernen lieber den unabhängigen Einzelhandel und die lokale Gemeinschaft stärken. Stokes Croft ist das Zentrum des alternativen Lebens in Bristol, ein Treffpunkt für Künstler und Kreative aller Art.
Inmitten des lokalen Geschehens befindet sich Telepathic Heights, ein besetztes Haus, das von den Besetzern renoviert und mit einer farbenfrohen neuen Fassade versehen wurde. Die Gruppe ist in Stokes Croft anerkannt und bildet einen festen Bestandteil der Gemeinschaft.

Tesco ist mit einem Marktanteil von ungefähr 30 Prozent eine der führenden Supermarktketten im Vereinigten Königreich. Im vergangenen Jahr eröffnete sie dort über 200 neue Filialen. Bereits im Januar 2010 wurde eine Niederlassung in Stokes Croft, direkt gegenüber von Telepathic Heights, angekündigt, was bei den Anwohnern auf erbitterten Widerstand stieß.

Unter dem Slogan „No Tesco in Stokes Croft“ wurde eine Kampagne gestartet, mit der sich die Betroffenen gegen kommerzielle Supermarktketten zur Wehr setzen. Sie fordern mehr Bewusstsein für Nachhaltigkeit und die Unterstützung lokaler Händler, um den Status von Stokes Croft als alternativen Treffpunkt aufrechterhalten zu können. „Geld, das bei Tesco ausgegeben wird, würde nur in eine Richtung fließen: raus aus Stokes Croft und aus Bristol.

Um eine starke lokale Wirtschaft aufbauen zu können, braucht Stokes Croft unabhängige Geschäfte, deren Produkte und Dienstleistungen aus Bristol stammen“, heißt es auf der Internetseite der Kampagne.

Nach einer vorübergehenden Besetzung der zukünftigen Filiale im Frühjahr 2010 umstellte Tesco das Gebäude mit Bauzäunen, um es vor Angriffen der aufgebrachten Anwohner zu schützen. Bis zu fünf Sicherheitsleute standen rund um die Uhr Wache.

Obwohl die Kampagne eigenen Angaben zufolge von 93 Prozent der Anwohner unterstützt wird, blieb der erhoffte Erfolg aus: Im Dezember 2010 begannen die Bauarbeiten an der Filiale, die Eröffnung fand schließlich im April diesen Jahres statt. Damit gibt es in Bristol 31 Filialen des Supermarkt-Giganten, allein 18 davon im Stadtkern.

„No Tesco in Stokes Croft“ reagierte auf die Eröffnung mit friedlichem Protest. Demonstranten verteilten täglich selbstgekochtes Essen und Informationsbroschüren vor der Filiale oder versuchten, dort mit Monopoly-Geld zu bezahlen.

Friedliche Proteste schlagen um

Als ein Wachmann von Tesco am 21. April meldete, er habe in Telepathic Heights einen Molotowcocktail gesehen, sperrte die Polizei gegen 20:30 Uhr die Straße und drang mit Durchsuchungsbefehlen in das Gebäude ein, um es zu räumen. Die Situation eskalierte, als Passanten zur Unterstützung der im Viertel sehr beliebten Hausbesetzer herbeieilten. Die Bereitschaftspolizei rückte mit Verstärkung nach, insgesamt waren 160 Mann im Einsatz.

Kurz vor Mitternacht begannen mehrere Twitter-User, Videos von den Geschehnissen in Stokes Croft hochzuladen. Schon bald folgten Tausende Menschen den Aufständen live im Internet.

Die Lage geriet endgültig außer Kontrolle, als kurz darauf die umliegenden Pubs Feierabend machten. Viele Betrunkene schlossen sich auf ihrem Heimweg den Auseinandersetzungen an. Die Straßen waren übersät mit Glasscherben, an mehreren Stellen gab es offenes Feuer.

Gegen ein Uhr nachts schwappten die Aggressionen auch auf den neuen Tesco-Markt über. Randalierer urinierten gegen die Fassade, später kam es zu Plünderungen und am nächsten Morgen zierte ein roter Schriftzug die beschmierte Ladenfront: „Closing down sale“ (Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe).

Die Auseinandersetzungen wurden gewalttätiger, sodass es zu unzähligen Verletzungen kam. Insgesamt mussten acht Polizisten ins Krankenhaus eingeliefert werden, die Zahl der verletzten Aufrührer war weitaus höher. Schwerverletzte gab es allerdings keine. Erst in den frühen Morgenstunden beruhigte sich die Situation.

Eine Woche später fand in Stokes Croft ein weiterer Protest statt, der sich in erster Linie gegen die tätliche Polizeigewalt der vergangenen Woche richtete. Im Laufe des Abends kam es erneut zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei. Insgesamt wurden im Zusammenhang mit den Aufständen 37 Beteiligte verhaftet und neun angeklagt.

"Es war absehbar, dass so etwas passieren würde"

Claire Milne, eine Koordinatorin von „No Tesco in Stokes Croft“, sagte der Lokalzeitung Evening Post: „Wir haben dem Stadtrat und auch Tesco wiederholt mitgeteilt, dass wir uns Sorgen machen. In unserer Gemeinschaft gibt es Menschen, die bereit sind, das Gesetz zu brechen, wenn ihre Stimmen ungehört bleiben. Es war absehbar, dass so etwas passieren würde.“ Sie betont, dass der Aufstand nicht in Verbindung mit der friedlichen Kampagne stand.

Der aus Bristol stammende Straßenkünstler Banksy entwarf ein Motiv als Reaktion auf die Vorkommnisse. Es handelt sich dabei um einen Molotowcocktail mit einem Etikett der preiswerten Tesco-Hausmarke. Das Werk wurde mit einer Auflage von 2.000 Stück gedruckt, der Erlös des Verkaufs soll in voller Höhe  Organisationen in Stokes Croft zugute kommen. Ein Teil davon soll den während der Aufstände verhafteten  Mitgliedern der Gemeinschaft helfen, den notwendigen juristischen Beistand zu finanzieren.

Sechs Wochen nach den Aufständen ist die Tesco-Filiale frisch renoviert und wieder geöffnet. Die gewaltsamen Ausschreitungen haben bewirkt, dass „No Tesco in Stokes Croft“ von der Öffentlichkeit nicht mehr ernst genommen wird. Zudem hält Tesco es nicht für ratsam, den Markt nun zu schließen: Das würde suggerieren, dass der Konzern sich von Gewalt und Vandalismus einschüchtern ließe und könnte im schlimmsten Fall zu Angriffen gegen weitere Filialen führen.

Insofern haben sich die Anwohner von Stokes Croft mit den Aufständen keinen Gefallen getan. Sie sind dem Ziel, ihr Stadtviertel frei von kommerziellen Supermarktketten zu sehen, ferner als je zuvor.

von Marlene Kleiner
   

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