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 Heidelberg
24.07.2012

Illegale Migration sichtbar machen

Sans-papiers marschieren für Bewegungsfreiheit und Bleiberecht

Auf dem Heidelberger Bismarckplatz unterstützen die Sans-papiers die Forderungen der Montagsdemonstranten. / Foto: Franck Vibert

Rund vier Millionen Menschen sollen sich illegal in der Europäischen Union aufhalten. Unternehmen profitieren von deren billiger Arbeitskraft. Für die Einwohner bleiben sie unsichtbar. Auf einem Marsch durch Europa wollen die "Papierlosen" nicht nur staatliche Grenzen überwinden.

Auf dem Bismarckplatz gibt der Feierabendverkehr den Ton an: hektisches Hupen, zwangloses Geplapper, polyphone Sounds. Unter die Elemente der urbanen Klangkulisse mischen sich heute auch die kraftvollen Rhythmen der Djembé-Trommeln und muntere Sprechchöre. „Liberté de circulation et d‘installation pour tous“ – „Bewegungsfreiheit und Bleiberecht für alle“ – fordern die Menschen, die sich in der Mitte des Platzes in einem großen Kreis versammelt haben. Aus Lautsprechern erschallt zunächst die Rede der Montagsdemonstranten gegen Hartz IV. Anschließend erhalten Sprecher der Internationalen Koalition der Sans Papiers und Migranten das Wort.

Manou Doumbia (Name geändert) ist einer von ihnen. Der junge Mann lebt in Paris und versteht sich als Franzose. Während der Kolonialzeit seien seine Vorfahren in der Elfenbeinküste schließlich auch Franzosen gewesen. Er fragt sich, warum ihm nun das Recht auf eine französische Staatsangehörigkeit verwehrt bleibt. Daher schloss er sich dem „Europäischen Marsch der Papierlosen und MigrantInnen“ an. 

Los ging es in Brüssel. Zwei Wochen war er unterwegs, als er am 18. Juni in Heidelberg ankam. Mit ihm machten sich rund 130 Männer und Frauen aus 27 zumeist afrikanischen Ländern auf den Weg, auf dem sie inzwischen durch symbolträchtige Orte wie Maastricht, Schengen oder Verdun Halt gemacht hatten. Bis Anfang Juli wollten sie sieben Länder durchqueren und dabei auf ihre Lebensbedingungen als Sans-papiers und die Folgen irregulärer und restriktiver Migrationspolitik aufmerksam machen. 

Ein gewagtes Unternehmen, schließlich handelt es sich hier um Menschen „ohne Papiere“, also ohne geregelten Aufenthaltsstatus. In der EU sollen es zwischen 1,9 und 3,8 Millionen sein, wie europäische Forschungsinstitute im Rahmen des Clandestino-Projekts ermittelt haben. In Deutschland sollen sich zwischen 500.000 und einer Million aufhalten.

In der Regel reisen sie legal als Touristen, Studierende, Saisonbeschäftigte, Geschäftsreisende oder Asylsuchende ein. Erhalten sie nach Verstreichen der Aufenthaltsfrist keinen Aufenthaltsstatus, tauchen viele in die „Illegalität“ ab. Schwarz und zu Niedrigstlöhnen arbeiten sie auf zum Beispiel auf Berlins zahlreichen Baustellen, warten als moderne Tagelöhner auf dem „Arbeiterstrich“ in Wien oder halten sich in den Ballungszentren Europas mit Jobs in Fabriken, der Pflege, als Reinigungskräfte, Erntehelfer oder Sexarbeiter über Wasser. 

Illegale Migration sei damit auch Teil illegaler Nachfrage und werde bestimmt von politischen und wirtschaftlichen Interessen sowie von Menschen- und Grundrechten, stellt die Soziologin Insa Breyer fest. „Die Menschen werden abgeschoben, legalisiert, geduldet und prekarisiert“, so Breyer. Darüber hinaus sei Illegalität die Antwort auf Zuwanderungsbegrenzung bei starkem Zuwanderungsdruck, meint der Migrationsforscher Klaus Bade.

Geduldig verteilt Manou Flugblätter an verdutzte Passanten. Mit manchen kommt er ins Gespräch, sie interessieren sich für seine Geschichte: Nach Frankreich kam er als Geographiestudent. Als die Frist für den Studienaufenthalt ablief, wurde aus ihm ein Sans-papiers. Seit sieben Jahren lebt er in Frankreich, arbeitet dort und zahlt Steuern . „Es ist unzumutbar, Menschen jahrelang hinzuhalten und sie auf ein Bleiberecht warten zu lassen“, empört sich Manou. Zwar möchte er wieder in seine Heimat zurück, aber nur mit einem Studienabschluss.

In Frankreich setzt sich die Bewegung der Sans-papiers bereits seit Jahren für Legalisierung und rechtliche Gleichstellung ein. Besonders in den 90er Jahren wurde aufgrund zunehmend repressiver Migrationspolitik regelmäßig demonstriert, gestreikt und besetzt.

In Deutschland ist „irreguläre Migration“ weniger bekannt. Oft spricht man von „Illegalen“. Menschen ohne Aufenthaltsstatus gelten hier eher als Kriminelle oder Opfer. Eine Aktivistin des Legal-Teams, das die Sans-papiers durch Deutschland begleitet, spricht von „Berührungsängsten“ und „Unwissen“. „Die behördliche Isolierung von Asylsuchenden und Papierlosen ist natürlich gewollt, damit keine Freundschaften entstehen oder sich Unterstützungsgruppen bilden“, bemerkt sie, „im Laufe der Vorbereitung des Marsches haben wir uns auch an Lokalpolitiker gewandt. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, ernteten wir häufig Schweigen oder nette Absagen.“

Heidelbergs Oberbürgermeister Würzner entschied sich für eine Absage. „An die Thematik traut sich eben nicht jeder ran“, so die Aktivistin. Da Würzner „leider keine Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen“ kann, nimmt die Gewerkschaft Ver.di die Sans-papiers für zwei Nächte in ihren Räumlichkeiten auf. Die 130 Frauen und Männer übernachten im Bürogebäude, in Zelten auf dem Parkplatz oder auf Holzbänken im Hinterhof.

Am Dienstag besuchen die Sans-papiers das Flüchtlingslager in Sinsheim. Mit dabei sind das Legal-Team, freiwillige Sanitäter und Aktive der Gruppe Aufgetaucht, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Am Mittwoch Morgen bekommen die Sans-papiers vor ihrer Abreise überraschend Besuch von der Polizei. Nachbarn hätten sich beschwert, dass zu viele Schwarze in der Gegend seien, so die Begründung. Das Legal-Team ist geschockt, dass die Polizei auf solch rassistische Aussagen reagiert. In forschem Ton drohen die Beamten mit Anzeige, inspizieren gründlich das Gelände und verabschieden sich.  

In Straßburg angekommen, wurde der Marsch vom dortigen Bürgermeister sowie von Abgeordneten des EU-Parlaments empfangen. Amoune Sissoko, ein Sprecher der Sans-papiers, meint in einem Interview mit Radio Dreyeckland: „Sollte das Problem der irregulären Migration nicht gelöst werden können, wird es auf Dauer zu einer leisen Revolution wie unter Gandhi kommen“.


Flüchtlingsrecht

Das Asyl- und Flüchtlingsrecht und seine Handhabung in der Europäischen Union ist in vielerlei Hinsicht prekär. Seit 2003 regelt das Dublin-II-Abkommen die Zuständigkeit für Flüchtlinge unter den EU-Mitgliedsstaaten. Demnach können Asylsuchende nur in dem Land einen Antrag stellen, in dem sie zuerst in den Schengen-Raum gelangen. Reisen Flüchtlinge in ein anderes Land weiter, erhalten sie dort keine Aufenthaltserlaubnis und werden in den Erstempfängerstaat überstellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert diese Praxis, da sie ohne jegliche Prüfung der für Flüchtlinge oftmals prekären humanitären Situation geschieht. Staaten wie Griechenland oder Italien sind wegen des starken Zulaufs oftmals nicht in der Lage, Flüchtlingen eine menschenwürdige Behandlung zu gewährleisten. 
In Deutschland regelt das Asylverfahrensgesetz das Asylrecht.  Die sogenannte Residenzpflicht beschränkt den Aufenthaltsbereich von Flüchtlingen auf den Einzugsbereich der zuständigen Ausländerbehörde. Verstöße gegen diese Regelung können mit bis zu einem Jahr Haft geahndet werden. Zudem werden Asylsuchende oft ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften einquartiert. Diese Maßnahmen machen eine gesellschaftliche Teilhabe unmöglich und richten sich laut UN-Flüchtlingswerk gegen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. 
Das 1993 als Instrument einer repressiven Zuwanderungspolitik eingeführte Asylbewerberleistungsgesetz regelt die Sozialleistungen für Asylsuchende. Die monatlichen 225 Euro beinhalten Unterbringung, Grundversorgung, Sachleistungen in Form von Gutscheinen und Lebensmittelpaketen und 40 Euro Taschengeld. Da die Leistungen bis zu 40 Prozent unter Hartz-IV-Niveau liegen und seit 1993 nie angepasst wurden, prüft das Bundesverfassungsgericht gerade auf Anfrage die Verfassungskonformität dieses Gesetzes. Ein Urteil wird am 18. Juli erwartet. 

 


von Anne-Kathrin Glaser und Paul Eckartz
   

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