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 StudiLeben
20.05.2012

Studium mit Umwegen

Jung, Student, behindert

Foto: Annika Kasties

In Heidelberg sind trotz Bemühungen noch einige Hürden zu überwinden. Annika Kasties hat sich umgeschaut. Viele Uni-Gebäude sind noch nicht barrierefrei. Doch mehr als das erschwert die bürokratische Gleichgültigkeit das Leben körperlich behinderter Studenten. 

Wenn Nora in der Altstadt unterwegs ist, fällt sie auf. Das liegt nicht an ihrem Lippenpiercing. Oder an ihrer Frisur. Mit ihrem Rollstuhl sticht Nora zwischen den Zweiradfahrern Heidelbergs hervor. „Angeblich gibt es hier 200 behinderte Studenten. Ich kenne nur vier“, wundert sich die 27-Jährige, die im Frühjahr 2011 ihr Studium in Musikwissenschaft und Anglistik abschloss. 

Bedächtig legt Nora im Marstallhof sitzend die Hände um ihren Kaffee und nimmt einen großen Schluck. Den Kaffee musste ihre 24-Stunden-Assistentin besorgen. Selbstständig könnte Nora nichts an der Theke der Marstallmensa entgegen nehmen. „Feinmotorisch funktioniert alles, grobmotorisch funktioniert gar nichts“, erklärt sie den Grad ihrer Behinderung. „Ich brauche im Prinzip Hilfe bei allem. Ich kann wunderbar am Computer sitzen und tippen. Aber Flaschen aufschrauben, Bücher aus einem Regal heben oder schwere Bücher halten, geht nicht.“ 
 Ihr Studium war für Nora mit Strapazen verbunden, über die sich der Großteil ihrer Kommilitonen keine Gedanken machen musste. Neben Beethovens Symphonien und Shakespeares Sonetten bestimmten technische Hilfsmittel und Nachteilsausgleiche ihren Alltag. 

Die Anzahl der Studierenden mit einer Behinderung oder chronischen Krankheiten ist schwer abzuschätzen. Laut der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks waren im Sommersemester 2006 knapp 19 Prozent der Studierenden in Deutschland behindert oder chronisch krank. 44 Prozent von ihnen sahen ihr Studium dadurch beeinträchtigt. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor. 

Auch Blanche Brinken und Stefan Treiber, Behindertenbeauftragte der Universität Heidelberg, wissen die Zahl der Heidelberger Studierenden mit Handicap nicht. Bei der Immatrikulation ist diese Angabe freiwillig. Mit zwei studentischen Mitarbeitern unterstützen Brinken und Treiber als „Handicap-Team“ beeinträchtigte Studierende im Studienalltag. Bei ihnen können sich Behinderte oder chronisch Kranke über technische Hilfsmittel, finanzielle Unterstützung oder Nachteilsausgleiche informieren. 

Sicherzustellen, dass beeinträchtigte Studierende die gleichen Möglichkeiten wie ihre Kommilitonen haben, ist nicht immer einfach. „Wir versuchen immer, eine gute Lösung zu finden. Meistens klappt es irgendwie“, versichert Treiber. Die Installation von mobilen Rampen in der Japanologie ermöglichte im Wintersemester 2011/12 einer Rollstuhlfahrerin die Aufnahme ihres Studiums. Auch für einen ähnlichen Fall in der Kunstgeschichte fand sich eine Lösung. Eine Studentin wollte eine Veranstaltung belegen, die in einem ihr nicht zugänglichen Raum stattfand. Die Fachstudienberaterin organisierte eine Internetübertragung. „Bei Problemen versuchen wir zu vermitteln, wobei das erfreulich selten notwendig ist“, erklärt Brinken eine zentrale Aufgabe der Beratungsstelle. Treiber pflichtet ihr bei: „Vieles ist mit gewissen Einschränkungen oder Umwegen möglich.“ 
 
 Umwege kennt Nora in Heideberg zur Genüge. Es ist frisch geworden. Ihre Assistentin legt ihr die Jacke um und hilft ihr dabei, in die Ärmel zu schlüpfen. „Früher war da vorne eine Rampe“, deutet Nora auf eine kleine Treppe in der Nähe des Eingangs zur Marstallmensa. Im Zuge der Umbauarbeiten des Marstallhofs vor zwei Jahren wurde die Rampe verlegt. Rollstuhlfahrer, die von der Unteren Neckarstraße kommen, müssen nun am Institut für Klassische Archäologie entlang und den gesamten Marstallhof umfahren, um in die Mensa zu gelangen. Die Begründung des Studentenwerks, die Rampe sei für Rollstuhlfahrer zu steil gewesen, findet Nora unlogisch. „Da wäre genug Platz gewesen, um eine neue, weniger steile Rampe zu bauen, anstatt eine mit Kopfsteinpflaster, in dem die Lenkreifen hängen bleiben.“ 

Am Psychologischen Institut steht die Ãœberwindung von baulichen Hürden schon lange auf der Tagesordnung. Seit Jahren bemüht sich die Uni um die Installation eines Fahrstuhls im Hintergebäude des weitgehend barrierefreien Instituts. Mit diesem soll Rollstuhlfahrern der eigenständige Zugang in die Räume des ersten Stockwerks ermöglicht werden. Wie die Pressestelle der Uni mitteilte, werde der Baubeginn voraussichtlich Ende des Jahres möglich sein. 

Bauliche Maßnamen dieser Art sind unter anderem durch die Förderung der Dr. Ahlheim/Eheleute Dr. Vogt-Stiftung möglich. Diese unterstützt begabte Studierende mit Behinderung. „Geeignete Maßnahmen in diesem Sinne sind namentlich die Finanzierung von baulichen Vorhaben, welche dazu dienen, Universitätsgebäude und Studentenwohnheime behindertengerecht zu gestalten, sowie die Gewährung von Stipendien für Studien- und Forschungszwecke“, erklärt Ute Müller-Detert von der Pressestelle der Uni Heidelberg. Zu diesen Maßnahmen gehörten auch Zuschüsse für Vergrößerungsscanner in der Universitätsbibliothek sowie Tutorien für Blinde. 

Dennoch sind viele Unigebäude noch nicht barrierefrei. Im Zentralen Sprachlabor müssen Studierende einige Stufen überwinden, um in die Räume zu gelangen. Auch ein Germanistikstudium lässt sich in Heidelberg nur schwer als Rollstuhlfahrer bewältigen. Ein barrierefreier Zugang zu den Seminarräumen ist kaum gewährleistet. Aufzüge gibt es nicht.

Von Schwierigkeiten dieser Art ist Lena nicht betroffen. Die körperliche Beeinträchtigung der Psychologiestudentin ist weniger augenscheinlich als Noras Rollstuhl. Seit ihrer Geburt leidet sie an Schwerhörigkeit, die an Taubheit grenzt. Dass sie inzwischen Vorlesungen besuchen und Seminargesprächen folgen kann, verdankt sie dem Cockleaimplantat (CI), einem Implantat unter der Kopfhaut, das mit einem Elektrodenträger in der Hörschnecke verbunden ist. 

Das CI hat ihre Studienbedingungen deutlich verbessert. „Seminare wären nur mit einem Hörgerät undenkbar gewesen.“ Neben dem CI ermöglicht ihr zudem eine FM-Anlage, ein Verstärker von der Größe eines Diktiergeräts, ihren Dozenten und Kommilitonen größtenteils zu folgen. Ihr Hörverständnis bleibt dennoch eingeschränkt. 
 Um die daraus resultierenden Nachteile auszugleichen, nimmt die 23-Jährige bei Klausuren ihr Recht auf Zeitverlängerung in Anspruch. Ihre Dozenten kommen ihr bezüglich ihrer Behinderung überwiegend entgegen. Statt eine Präsentation zu halten, schreibt Lena wegen ihrer leicht ungewöhnlichen Aussprache lieber eine Hausarbeit.

Auch Noras Dozenten verhielten sich ihr gegenüber größtenteils entgegenkommend. Dennoch verbindet die Doktorandin nicht nur gute Erinnerungen mit ihrem Studium. Trotz des barrierefreien Zugangs zu den Seminarräumen ihrer Institute blieben ihr im Laufe des Studiums viele Türen verschlossen.

Die musikwissenschaftliche Bibliothek hat Nora nur dreimal zu Gesicht bekommen. Ein Freund hatte sie die steile Treppe zur Bibliothek hinauf getragen. „Umgebaut wurde nichts. Aber Denkmalschutz hin oder her, ich nehme mal an, dass der Einbau eines Treppenlifts funktioniert hätte, wenn man denn gewollt hätte“, vermutet Nora. 
 Insbesondere ihre Magisterprüfung empfand sie als unnötige Doppelbelastung. Das Prüfungsamt gewährte ihr gesonderte Prüfungstermine und Zeitverlängerung. Die Klausuren konnte sie mit dem Laptop bearbeiten.

Um zwischendurch zuhause die eigens für sie umgebaute Toilette aufsuchen zu können, musste sich der Prüfungsraum aber nahe ihrer Wohnung befinden. Dies wurde bewilligt. Den Raum musste Nora selbst suchen, was ihrer Meinung nach nicht ihre Aufgabe ist. Darin sieht sie eine deutliche Benachteiligung.

Ihr Fazit ist eindeutig: „Die Probleme kommen nicht wegen des Rollstuhls. Mit dem kann ich umgehen, auch mit daraus resultierenden Schwierigkeiten. Aber die Probleme kommen daher, dass andere Leute meinen, ihre Aufgaben zu verschludern.“ 

 

   

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