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 Interview
11.12.2007

"Wir brauchen Taugenichtse!"

Rüdiger Safranski über Romantik, die 68er und Bewusstseinserweiterung

„Phantasie und Imagination“ gehören für Rüdiger Safranski zur Romantik, aber auch die 68er-Bewegung, Umweltschutz – und Joschka Fischer? In seiner in diesem Jahr erschienenen Kulturgeschichte „Romantik – eine deutsche Affäre“ zeigt Safranski Dimensionen einer literarischen Epoche auf, die über Eichendorff und Novalis hinausgehen. Mit dem ruprecht sprach er darüber, wo wir heute noch den Geist der Romantik finden. 

Das Gespräch führten Beate Brehm und Janine Luth.

Herr Safranski, sehen Sie sich als Romantiker?

Ja, als einen skeptischen Romantiker. Ich bin durch die Aufklärung hindurchgegangen und bin auch eingeübt im Realismus, aber ich bin natürlich Romantiker. Romantik heißt, mehr zu wollen als das Gewöhnliche, das so genannte Realistische. Aber nur wenn beides da ist, gibt es Vitalität. Wer sich nur auf Pragmatismus und Realismus beschränkt, der lebt verkehrt. Ich sage immer: Ohne Romantik wäre das Leben ein Irrtum. 

Was verstehen Sie unter Romantik im Leben? 

Romantik ist Phantasie und Imagination, aber Romantik ist auch eine geistige Einstellung. Sie geht davon aus, dass unser Leben und die Natur so ungeheuer geheimnisvoll sind, dass wir uns nicht einbilden dürfen, sie wirklich von Grund auf verstanden zu haben. Und Romantik bedeutet dann, mit dem Gefühl weiter zu gehen als mit dem unmittelbaren Verstand. Deshalb ist Romantik auch eine ästhetische Fortsetzung des Religiösen. Und überall, wo wir die heute noch haben, da haben wir – zum Glück – auch heute noch Romantik. 

Warum nennen Sie Ihr Buch dann „Romantik – eine deutsche Affäre“ und nicht „eine deutsche  Dauerbeziehung“?

In der Affäre steckt eben mehr Leidenschaft als in der festen Beziehung. Affäre hat aber auch etwas Skandalisierendes, und das Romantische ist ja nicht ganz unschuldig. Wilhelm Schlegel hat zum Beispiel einen erotischen Roman geschrieben, „Lucinde“, bei dem für die Gesellschaft ganz klar war, dass es sich bei der Romanheldin um seine damalige Geliebte Dorothea Veit handelte. Das war zwar sehr intim, das war ein Skandal, aber es geschah mit beiderseitigem Einvernehmen. Wenn es aber zwischen Romantik und Politik Kurzschlüsse gibt, dann kann es gefährlich werden. Das hat uns die deutsche Geschichte gezeigt.

Wer verkörpert heute das Romantische?

In der Popmusik ist das Romantische immer sehr vertreten. Wir haben damals Pink Floyd und The Doors gehört; das waren Bands, die sowas von ekstatisch waren, so fantastisch, das waren durch und durch romantische Gruppen! 

Brauchen wir in unserem Bewusstsein ein romantisches Gegengewicht
zum gefühlten Druck der Globalisierung?


Das denke ich schon. Romantik hat ja auch etwas mit Sehnsucht zu tun. Und wir haben heute in unserer Gesellschaft eine Sehnsucht nach dem Romantischen. Das ist paradox: In Zeiten der Globalisierung haben die Menschen Sehnsucht nach der Sehnsucht. 

Ist denn die gesamte grüne Thematik,sind auch der Klimaschutz und Bioläden romantisch?

Natürlich! Es gibt ein neues Naturgefühl, die Natur wird als Partner angesehen und pfleglich behandelt. Die ersten sprechenschon wieder von Mutter Natur. Es entwickelt sich also ein emotionales Verhältnis zur Natur. Genau das begann in der Romantik: Schon um 1800, mit Beginn der Industrialisierung, kam in den deutschen romantischen Kreisen Sensibilität dafür, dass man die Natur auch zerstören kann, auf. Da waren die Romantiker geradezu prognostisch. Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass die grüne Bewegung in Deutschland angefangen hat. Jetzt gibt es sie europaweit. 

Demnach ist also auch Joschka Fischer ein Romantiker?  

(lacht) Zumindest mag er mein Buch! Er gehört aber als 68er sicherlich
auch zu denen, die damals an die Wände schrieben: „Phantasie an die Macht!“ Wenn das kein romantischer Spruch ist.

Was war an der 68er-Bewegung romantisch?

Ich unterscheide die Aufbruchsbewegung um 68, und das was in den 70er-Jahren daraus wurde. Das war zum Teil schlimmer Dogmatismus und hatte wenig mit Romantik zu tun. In der Aufbruchsstimmung war aber ein starkes romantisches Motiv vorhanden. Zum einen in der Popmusik, zum anderen aber auch in der erotischen Komponente. Die sexuelle Revolution und der neue erotische Lebensstil, der sich von den Verkrampfungen der vergangenen Jahre löste – genau das nannte man in der historischen Romantik Mitte des 19. Jahrhunderts das Dionysische. 

Was ist denn das Dionysische?


Zum Beispiel die „Bewusstseinserweiterung“, die junge Menschen damals suchten. Schon die Romantiker hatten sich überlegt, wie sie ihr Bewusstsein erweitern könnten. Nur machten sie das meistens ohne Rauschmittel, obwohl es auch da Gegenbeispiele gab: Novalis zum Beispiel schrieb in seinen „Hymnen an die Nacht“ ein Gedicht über den Mond – das ist natürlich Opium. Dieser Versuch, Grenzen zu überschreiten, war damals, und ‘68 und ist heute vorhanden. 

Wie hat es die Romantik denn geschafft, bis zu 300 Jahre nach ihrer historischen Blütezeit in das deutsche Leben hineinzuwirken?

Entscheidend ist, dass sie das „ich“ wieder in den Mittelpunkt gesetzt hat. Deshalb war die historische Romantik so wirkungsmächtig. Und umso ironischer ist es, dass die 68er diese Ich-Entdeckung dann zu einem wild-romantischen „wir“ entwickelt haben, aber das ist auch den historischen Romantikern passiert. Es gibt offenbar ein Gesetz: Man entdeckt sich selbst, nimmt sich selbst wichtig und hat dann wieder die Sehnsucht, in einem „wir“ unterzugehen.

BILD-Chefredakteur Kai Diekmann behauptet in seinem Buch „Der große Selbstbetrug“, die 68er hätten Mittelmaß, Faulheit und Egozentrik in die deutsche Gesellschaft eingeführt, unter denen wir heute noch leiden...

Es ist auch ein Faktum, dass die Lust am „ich“ in simplen Egoismus umschlagen kann. Nur: Wer das romantische Gefühl einmal gehabt hat, der ist nicht mehr so verführbar durch eine besonders unappetitliche Art des Egoismus, nämlich den rein ökonomischen. Und wenn solche Menschen wie Diekmann über Egoismus reden, dann reden sie als besonders unappetitliche Individualisten. Da geht es einfach nur um das Geld verdienen. Egoismus an sich ist für jeden eine Gefahr. Man muss sich eben vor den besonders ekelhaften Varianten Rücksichtslosigkeit und Gefühlskälte schützen. Gegen diesen rechnerischen Egoismus, den so genannten „Philister“, wendet sich ja das Romantische.


Außerdem wehrten sich die 68er auch mit Händen und Füßen gegen den Nationalsozialismus.

Ja, und trotzdem hat man in früheren Jahren immer wieder gesagt, vom romantischen Irrationalismus führe ein Weg zu Hitler. Die Verehrung des Volkstums durch die Romantiker haben natürlich auch die Nazis für ihre Zwecke instrumentalisiert. Aber die haben an alle möglichen kulturellen Traditionen angeknüpft und sie für ihre Zwecke missbraucht – von Goethe abwärts! 

Trotzdem gibt es Stimmen, die behaupten, dass der Nationalsozialismus
auch aus dem Romantischen entstanden ist. 


Meine These dazu ist, dass man in der Vergangenheit viel zu viel über die vermeintlich romantischen Wurzeln des Nationalsozialismus geredet hat und dabei viel gefährlichere Wurzeln nicht richtig ins Visier genommen hat. Diese Wurzeln kommen aus dem pseudo- naturwissenschaftlichen Bereich des 19. Jahrhunderts. Ich spreche von Biologismus, Rassismus, Antisemitismus und Darwinismus – das waren die wichtigen ideologischen Elemente des Nationalsozialismus. Die Nazis hatten die Vision, am physischen Menschenmaterial herumzudoktern: Fehler zu eliminieren,
Menschenzucht zu betreiben – das sind alles biologische und pseudo-wissenschaftliche Ansätze. 

Naturwissenschaftliche Erklärungsmuster dominieren unser Weltbild heute doch stärker denn je.


Ja, aber diese ideologischen Zusammenhänge sind noch immer eine Gefahr, denn wir haben immer noch eine pseudo-naturwissenschaftliche
Ideologie. Wir merken das an der Gen-Debatte. Wir reden schon wieder über Euthanasie und verhandeln darüber, Menschen auf der Gen-Ebene zu modellieren. Will man darüber nicht reden, so redet man scheinbar lieber über den Zusammenhang von Romantik und Nationalsozialismus.

Verleiten naturwissenschaftliche Debatten um Klimakatastrophen dazu, neue Mythen zu erschaffen?

Ja, natürlich, und Mythen des Alltags haben wir zuhauf! Zwar können wir den immer mehr wissenschaftlich erhärten, aber auch darauf setzt sich dann gleich ein Mythos, zum Beispiel der vom Weltuntergang. Oder vom Wachstum. Wir haben den inständigen Glauben, dass Wachstum unsere Probleme löst. Das ist keine wissenschaftliche Überzeugung, das ist Glaube, ist Mythos. So ist das bei den Mythen: Sie sind gesellschaftliche
Glaubenssätze, die eine Gesellschaft zu einem bestimmtem Handeln motivieren. Das sind gesellschaftliche Mythen. Der Klimawandel
genauso.

Wer ist der moderne Taugenichts? 

Ich sage es jetzt einmal anders herum: Ich würde jedem BWL-Studenten als Pflichtlektüre zu Beginn seines Studiums Joseph von Eichendorffs „Taugenichts“ empfehlen, damit er nicht zu schmalspurig auf Profit und Wirtschaftlichkeit abfährt: Wir brauchen auf jeden Fall mehr Taugenichtse!

Herr Safranski, Wir danken Ihnen für das Gespräch.
 

von Beate Brehm, Janine Luth
   

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