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14.05.2007

Piepsen und Tönen überall

Ohne akustische Signale funktioniert in Japan nichts

Eigentlich gibt es wohl kein unbeliebteres Geräusch als das Klingeln des Weckers. Das ändert sich schnell, wenn der Morgen in Japan beginnt. Denn akustische Signale werden hier häufiger genutzt als in Mitteleuropa – vor allem im Servicebereich. So informieren Ansagen in der Bahn den Fahrgast nicht nur über den Namen des nächsten Bahnhofes, sondern auch über sämtliche Umsteigemöglichkeiten.

Johanna Shizuka Berg, Kyoto (Japan)

Gleichzeitig erinnern die freundlichen Stimmen daran, beim Aussteigen nichts liegen zulassen und weisen bei Regenwetter zum Beispiel explizit darauf hin, den Regenschirm nicht zu vergessen. Handys hingegen sind lautlos zu schalten und vom Telefonieren ist ganz abzusehen, um andere Fahrgäste nicht zu stören. Damit diese Verhaltensregeln auch jeder mitbekommt, werden diese Ansagen nach etwa jedem dritten Halt wiederholt.

Service bedeutet in Japan auch, sich für Selbstverständliches zu entschuldigen: Im Bus wird für plötzliches Bremsen und Verspätungen um Verständnis gebeten und die Außensprechanlage entschuldigt sich an den Bushaltestellen bei den wartenden Fahrgästen für die Wartezeit – auch, wenn der Bus pünktlich gekommen ist. Automatisch werden Busnummer und Ziel angesagt.

Beim Einsteigen folgt die Bitte, keine Gefahrengegenstände mit in den Bus zu nehmen. Die Tür schließt mit der Ansage „Die Tür schließt“, wonach die Stimme des mikrofonbehängten Busfahrers das Anfahren des Busses ankündigt.

Die Außenbeschallung sorgt dafür, dass nicht nur die Fahrgäste, sondern auch die anderen Verkehrsteilnehmer vom Abbiegen des Busses in Kenntnis gesetzt werden. Jeder Busfahrer beendet seine Fahrt mit der Ansage: „Danke für die Nutzung“ – auch das ist im ganzen Bus zu hören, ebenso wie sein Husten und Schniefen.

Die meisten Fahrgäste hören sowieso ihre eigene Musik und bekommen nur wenig von diesem Service mit. Zwecklos ist dementsprechend auch die Beschallung der Bahnhöfe mit Vogelgezwitscher und mechanischem Kuckuck. Eigentlich soll dieser der Entspannung dienen, nach anderthalb Minuten Warten ohne eigene Stöpsel im Ohr – ist er allerdings nur noch nervtötend.

Doch nicht nur im Transportwesen wird getönt. Blinden weisen piepsende Ampeln den Weg über die Straßen. Öffentliche Treppen und automatische Schiebetüren werden gleichfalls akustisch ausgeschildert. Die Fußgänger haben sich an den Service gewöhnt und gehen, nur auf die Piepser vertrauend, ohne zu schauen über die Straßen – allerdings auch an Straßen ohne piepsende Ampeln. Akustischen Service gibt es zudem an Fahrkarten und Geldautomaten: Eine freundliche Frauenstimme führt durch das Menü. Sie imitiert die Höflichkeitsfloskeln und eine Frauenfigur auf dem Bildschirm verbeugt sich brav dazu.

Der Krach in einer japanischen Spielhölle hat indes mit Service nichts mehr zu tun. Die Dezibelzahlen sind vergleichbar mit denen eines Presslufthammers. Tatsächlich erzählt ein Angestellter, dass er anfangs immer ein Fiepen im Ohr hatte. Er habe früher aber selbst oft gespielt, da sei die Geräuschkulisse wichtig für die Atmosphäre gewesen. Diese wird von fünfzig plärrenden Spielgeräten geschaffen, darüber breitet sich ein Technomusik-Soundteppich aus, dekoriert mit dem Rasseln und Klicken der Metallkugeln in den Flipper-Automaten.

Eigentlich soll die Musik in Geschäften eine angenehme Atmosphäre schaffen. In Japan heißt das Motto aber: „Wer am lautesten brüllt, hat die meisten Kunden“. So vermischen sich in den Einkaufsstraßen der Verkehrslärm, die Musik der Bekleidungsgeschäfte, die Stimmen der Verkaufsanimierer, die Musik der überdachten Bürgersteige, das Klicken und Rasseln aus den Spielhöllen und das Trappeln und Schlappen tausender Beinpaare zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie zusammen.

Zurück „im stillen Kämmerlein“ geht es weiter: In der Woche vor Wahlen wird den politischen Parteien erlaubt, mit Wahlkampf-Autos die Namen der Kandidaten in Wohnvierteln auszurufen. Allerdings wird die Zuordnung von Politiker und Partei wegen der Vielzahl von Parteien und trotz ganztägiger Beschallung am Ende etwas problematisch. Die Wahlkämpfer sagen, es gehe aber vor allem darum Namen bekannt zu machen. Das politische Anliegen müsse der Wähler Flugblättern und Zeitungen entnehmen. Dabei ist ihnen bekannt, dass sich Anwohner durch die Ansagen belästigt fühlen. Sie nehmen es aber getrost hin. Schließlich sagen Wahlberechtigte, dass erst die Wahlkampf-Autos auf Wahlen aufmerksam machten.

Wenn allerdings Gemeinde- und Präfekturwahlen an aufeinander folgenden Sonntagen abgehalten werden und aus einer Woche Beschallung zwei oder drei Wochen werden, dann sieht es mit der Toleranz etwas anders aus. Denn die Müllsammel-Autos, die ihr Kommen mit Liedern ankündigen, das Piepsen der Rückwärtsgänge und die „es wird nach rechts abgebogen“ Ansagen aller größeren Autos, werden auch in Wahlkampfzeiten nicht eingestellt.

In diesem Getöse zieht auch der Mann mit den Klangstäben um die Häuser und erinnert mit dem Klicken die Hausfrauen daran, den Gas-Herd abzustellen. Seine Existenz bis heute verweist auf die Ursprünge der andauernden Beschallung. Wie in Europa priesen auch im mittelalterlichen Japan fahrende Händler ihre Ware an und Ausrufer verkündeten die neuesten Gesetze.

Während diese Gepflogenheit in Europa verschwand, hat sie sich in Japan bis heute gehalten. Das mag an der schalldurchlässigen Bauweise der Häuser liegen oder am Erfolg der fahrenden Händler, die noch immer mit ihren Spezialitäten durch die Viertel ziehen – wie der Tôfu-Händler, der sich mit seiner charakteristischen Flötenmelodie ankündigt. Heutzutage wird diese allerdings von einem Tonband abgespielt; in einer Lautstärke, die selbst Betonwände durchdringt.

Nach ein paar Monaten in Japan erklärt sich vieles neu. Selbst was anfangs nur als nervig und überflüssig empfunden wurde, gewinnt mit dem Erkennen von Zusammenhängen an Bedeutung. Aber bei allem Verständnis für die fremde Kultur wächst in dieser durch akustischen Service geprägten Gesellschaft eines: Die Sehnsucht nach dem Schrillen eines Weckers, der die morgendliche Stille durchbricht. 

   

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