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12.01.2008

Weltenbrand aus der Retorte

VerBILDlichung im Onlinejournalismus

"Drei Bilder vor, noch eins zurück: Da, sie fällt. Und der Schuss, wo kam der her? Spul' nochmal zurück!" So könnte es aussehen, wenn Internet-Surfer vor dem Bildschirm versuchen, den Mord an der pakistanischen Politikerin Benazir Bhutto zu lösen.

"Drei Bilder vor, noch eins zurück: Da, sie fällt. Und der Schuss, wo kam der her? Spul' nochmal zurück!" So könnte es aussehen, wenn Internet-Surfer vor dem Bildschirm versuchen, den Mord an der pakistanischen Politikerin Benazir Bhutto zu lösen.


Dies ist das jüngste Beispiel einer geschmacklosen Entwicklung, die immer unverschämter Bilder von Toten und Verstümmelten per Mausklick in die gute Stube bringt. Während das Video lädt, wirft man noch schnell einen Blick ins Postfach und nimmt dann am Weltenbrand aus der Retorte teil. Der Nutzer erlebt gewissermaßen live den Tod dutzender Menschen, bevor er sich wieder der öden Textverarbeitung widmet.

Die Frage nach dem Informationswert stellt sich kaum und jene nach "journalistischer" Sorgfaltspflicht mutet im Fall von BILD wie ein Scherz an. Es handelt sich dabei aber keineswegs um eine Praxis, die sich auf einschlägige Publikationen beschränken würde, sondern um eine mit Breitenwirkung. So zeigten auch die qualitativ hochwertigen Internetseiten wie spiegel.de die geschundenen Leichen amerikanischer Soldaten im irakischen Falluja in Großaufnahme. Eine Vielzahl weiterer Beispielen ließe sich nennen. In keinem der Fälle hätte ein Verzicht auf die drastischsten Bilder zu nennenswertem Informationsverlust geführt.

Abgesehen von solch moralisch zweifelhaftem Einsatz bildlicher Darstellungen, birgt die online im Entstehen begriffene Visualkultur eine zweite, ungleich gewichtigere Problematik, die in ihrer wichtigsten Fähigkeit begründet ist: Der komprimierten Darstellung von Sachverhalten und Situationen. Anhand des Beispiels "Karikaturenstreit" lässt sich leicht veranschaulichen, wozu die gedankenlose Auswahl optischer Information führen kann. Vor ein Objektiv gedrängt wirkten einige gestikulierende Fundamentalisten so, als wäre ganz Pakistan auf den Beinen. Hätte man eine andere Perspektive gewählt, wäre der Eindruck weit realistischer gewesen. Bilder können also ein unseliges Eigenleben entwickeln, das, vom konkreten Kontext abgetrennt, in der Wahrnehmung des Publikums weiterspukt.

Die Gründe für die Auswahl reißerischer Bilder liegen auf der Hand: Der Kampf um Marktanteile tobt online nunmehr ebenso heftig wie bei den klassischen Medien. Gerade weil das Publikum im Internet jede denkbare Wahlmöglichkeit hat und dem Ferngruseln nicht abgeneigt ist. Sollte der gewünschte Inhalt nicht direkt auf der aktuellen Seite verfügbar sein, so gibt es den "Kick" nebenan bei der Konkurrenz.

Im Fernsehjournalismus ist dieser Umstand altbekannt. Wie im Internet mittlerweile auch, muss die Verwertung der Inhalte schnellstmöglich ablaufen. In einem Interview mit der Tageszeitung (taz) beschreibt Nahostkorrespondent Joris Luyendijk anhand eines Erlebnisses in Ramallah im Westjordanland zu welch bizarren Ergebnisse dies führen kann:

Ich dachte, jetzt gehe ich in den Krieg. Als ich dann endlich in Ramallah ankam, war es dort so friedlich wie in Köln oder Amsterdam:
Kinder kamen aus der Schule, Busse fuhren ihre Runden, die Tomaten waren im Sonderangebot. Als ich dann nach den Steinewerfern fragte, antwortete man mir: Immer geradeaus, dann nach links. Dort finden Sie jeden Tag nach zwei Uhr die Steinewerfer. Und tatsächlich, am nächsten Tag habe ich dort dann die Steinewerfer angetroffen. Die Bilder auf CNN hatten ein völlig verzerrtes Bild geliefert.

Woran lag das?

An den Nahaufnahmen. Wenn man eine andere Kameraperspektive gewählt hätte, dann hätte man erkennen können, dass es da auch Zuschauer gab, die in Ruhe ihren Falafel aßen. Wenn man einen anderen Blickwinkel gewählt hätte, dann hätten die Bilder aber eben auch nicht halb so dramatisch gewirkt.

Von der konkreten Missinformation einmal abgesehen gefährdet derartiges Vorgehen die Trennung zwischen professionellem Journalismus und jenem der analytischen Gosse. Im Internet ist eine derartige Trennung ungleich wichtiger als im Fernseh- oder Printbereich. Schließlich besteht hier aufgrund der technischen Verhältnisse weitestgehend Chancengleichheit zwischen den Profis mit gesellschaftlichem Auftrag und der Fraktion des sensationslüsternen Boulevards, der Schmuddelblogs, Hassprediger und Verschwörungstheoretiker. Medien also, deren Diskursregeln zumeist von reiner Plebiszitkultur geprägt sind.

Eine Abgrenzung ist daher nicht nur der Grund dafür, dass Berufsjournalismus im Internet überhaupt existieren kann, sie ist auch seine Berechtigung. Wenn Qualitätsmedien diese Grenze aufweichen schaden sie sich letztlich am meisten selbst, von der allgemeinen Diskussionsqualität ganz zu schweigen. Das exklusives Produkt der Qualitätsmedien besteht in dem für BILD und Konsorten unerreichbaren "Kick" der besonderen Art: Der um Klarheit und Objektivität bemühten Analyse.

Link zum Taz-Interview mit Joris Luyendijk

von Stefan Dworschak
   

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