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 Interview
03.06.2008

„Friede ist machbar!“

Man muss nur wissen, wie: Friedensforscher Johan Galtung im Gespräch

Der norwegische Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung sprach mit den ruprecht-Redakteuren Johannes Eberenz und Ellen Holder ĂĽber die Idee einer Nahost-Gemeinschaft, verlogene Medien und eine fliegende Orange.

Johan Galtung gilt als einer der Gründungsväter der Friedens- und Konfliktforschung. Er entwickelte die TRANSCEND-Methode zur Lösung von Konflikten und vermittelte weltweit in zahlreichen Auseinandersetzungen. 1987 erhielt er den Alternativen Nobelpreis. Mit den ruprecht-Redakteuren Johannes Eberenz und Ellen Holder sprach er über die Idee einer Nahost-Gemeinschaft, verlogene Medien und eine fliegende Orange.


ruprecht: Ist bei internationalen Konflikten Krieg als letztes Mittel legitim?

Johan Galtung: Diese Frage ist typisch deutsch. Man erforscht die Grenzen des Denkens statt des Zentrums des Denkens. Aber die eigentliche Problemstellung ist nicht, wann Krieg berechtigt ist, sondern: Wie schafft man ihn ab? Das wäre genau dasselbe wie zu sagen: Unter welchen Umständen ist Sklaventum oder Kolonialismus berechtigt?

Was machen wir stattdessen?


Konflikte lösen. Fahre ich beispielsweise in den Iran und frage, worum es geht, kommt unmittelbar nur ein Wort: 1953. Das ist das Jahr, in dem CIA und MI6 einen legitim gewählten Staatsminister gestürzt und dann 25 Jahre Schah-Diktatur eingeführt haben. Die Iraner möchten, dass die Vereinten Staaten ganz einfach verstehen, dass sie etwas Dummes getan haben. Deutschland hat das meisterhaft gemacht.

Kann die deutsche Kriegsbewältigung als Musterbeispiel dienen?


Absolut. Deutschland hat 25 Länder missbraucht, drei Nationen teilweise ermordet: die Juden, die Russen oder Slawen im Allgemeinen und die Sinti und Roma. Und jetzt hat Deutschland gute oder fast gute Verbindungen zu allen 28 Ländern. Das ist einmalig in der menschlichen Geschichte. Die meisten Deutschen sind sich dessen nicht bewusst. Leider.

Wie kam das zustande?

Die Lösung war die Mitgliedschaft Deutschlands in der europäischen Gemeinschaft. Monnet und Schuman sagten: Nazi-Deutschland ist so grausam gewesen, dass Deutschland Mitglied der europäischen Familie sein muss. Und dann gab es keine Familie, also haben sie die Gemeinschaft gegründet, und Deutschland war ab dem 1. Januar 1958 Gründungsmitglied.

Wenn die europäische Familie so wichtig für Deutschland ist, kann dann die UN als globale Familie Probleme lösen?

Es gibt keine globale Familie mit Vetomächten, das ist eine Feudalstruktur. Wenn man das Vetorecht abschaffen und die UNO demokratisieren könnte, mit Direktwahl in allen Mitgliedsländern, wäre es schön. Das wird aber erst in 40 oder 50 Jahren kommen.

Ist Demokratie überall möglich?

Die Europäische Union mit einer halben Milliarde Menschen hat das geschafft; das Parlament ist nicht vollkommen, aber es gibt es. Auch die Indische Union mit 1,1 Milliarden hat das geschafft. Dann dürfte es auch für 6,5 Milliarden möglich sein.
Wäre eine solche Lösung auch für den Nahostkonflikt möglich?
Ich bin für eine Nahost-Gemeinschaft. Ich habe 44 Jahre darüber gearbeitet und in hunderten Dialogen ist eine Nahost-Gemeinschaft mit sechs Länder herausgekommen: Israel, Libanon, Syrien, Jordanien, Palästina und Ägypten, die fünf Nachbarländer von Israel.

Davon sind wir aber weit weg. Wo sind denn die Probleme?

Nein, ich glaube, wir sind davon vielleicht zehn Jahre weg. Ich habe jetzt 20 Jahre in so vielen Versammlungen gesagt: Geben sie mir bitte eine bessere Lösung, eine nachhaltige Lösung mit Frieden und Sicherheit – ich habe niemals einen anderen nachhaltigen Vorschlag gehört.

Sind die Anforderungen, die Sie mit Ihrer Methode an den Menschen stellen, nicht zu hoch?

Sie müssen in Betracht ziehen, dass ich sehr viel Erfolg gehabt habe. Nicht in Palästina-Israel, aber in anderen Konflikten.

Zum Beispiel?

Der Friede zwischen Peru und Ecuador. Das waren die größten Kriege Lateinamerikas in einer Periode von 60 Jahren. Und mit einem ganz einfachen Vorschlag war alles in Ordnung gebracht. Dort wurde eine binationale Zone in den Anden eingerichtet, mit Naturpark und einer gemeinsamen ökonomischen Zone. Diese Friedensordnung hält schon 10 Jahre reibungslos. Das ist in Deutschland völlig unbekannt.
Ich war auch der Vermittler zwischen der dänischen Regierung und den Muslimen. Die Mohammed-Karikaturen waren nicht das Problem, das Problem war die Verweigerung der dänischen Regierung, einen Dialog zu führen. Das war ein Freitag und am folgenden Montag kam die Einladung von der dänischen Regierung zum Dialog. Montagnachmittag gab es keine brennenden Botschaften mehr.

Was ist an dem Dialog, den Sie fordern, so besonders?

Wir Vermittler suchen Lösungen. Und das geht durch Dialog und gegenseitige Fragestellungen. Idealerweise könnte man sagen: In einer Vermittlung endet jeder Satz mit einem Fragezeichen.
Ich frage etwa: Wäre dieses oder jenes möglich? Dann kommt von der anderen Seite: Aber wie schafft man Grenzüberwachung, wie bewältigt man das Wasserproblem? Darauf antworte ich: Man könnte sich vielleicht auf der Grenze zwischen Israel und Ägypten ein Entsalzungswerk vorstellen.

Man hört relativ wenig von solchen Lösungen.

Das hat damit zu tun, dass die Medien nicht an Frieden interessiert sind sondern an Gewalt. Was nicht geglückt ist, davon möchten sie gerne hören, und wenn wir Erfolg haben, ist das völlig uninteressant. Meine Freunde, Journalisten, haben gesagt: „Siehst du, Johan, eine nicht brennende Botschaft ist nicht interessant. Eine brennende Botschaft ist schon interessant.“

Das liegt doch auch an den Lesern.

Das stimmt überhaupt nicht! Die meisten Leser möchten mehr positive Nachrichten. Die finden die Medien meistens abscheulich, weil sie so gewalt- und negativsüchtig sind. Weibliche Journalisten sind meist besser, aber die patriarchalischen Männer streichen alles, was zu optimistisch ist, und sagen: „Die Leser möchten es nicht.“ Das ist eine Lüge.

Wie kann man Leute dazu bewegen, in den Dialog einzutreten?

Das ist nicht so problematisch. Die sind so neugierig, die kommen wie die Fliegen. Ich habe nur intellektuelle Macht, die Macht der Worte; ich habe nur relativ gute Vorschläge, die gegenseitig in Dialogen entwickelt worden sind. Diese Vorschläge sind dann wie Samen; sie haben ihr eigenes Leben. Was genau geschieht, weiß ich nicht. Ich komme ab und zu und bewässere die Sache. Plötzlich kommt eine Erklärung von der Regierung. Wir haben also die Erfahrung, dass es funktioniert. Ganz einfach positiv.

Sie haben ein bekanntes Beispiel: zwei Kinder, eine Orange...

... genau, das Kinderbuch „die fliegende Orange“: Es gibt 16 Möglichkeiten bei zwei Kindern und einer Orange. Es beginnt mit zwei Buben und einer fängt an, den anderen zu schlagen. Am Ende haben sie blutige Nasen und die Orange liegt zertrampelt auf dem Boden. Das ist der Krieg.
Nummer 16 ist ein kleines chinesisches Mädchen. Sie sagt zu dem Knaben: „Es gibt kleine Steine in der Orange, die möchte ich gerne haben, und du nimmst alles Andere.“ Der Knabe denkt: „Das ist typisch, die Mädchen sind einfach dumm: dumm geboren, dumm aufgewachsen, und wenn sie Frauen sind, sind sie noch dümmer.“ 20 Jahre später hat sie eine Orangenplantage und der Knabe ist arbeitslos.

Was hindert das stärkere Kind daran, die Orange gleich zu nehmen?

Zum Beispiel fragt ein Vermittler: „Haben Sie von Orangenplantagen gehört?“ Dann wird es ab und zu Menschen geben, die diesen Vorschlag ganz vernünftig finden. Das werden nie alle unmittelbar annehmen. Aber wenn jemand es macht, werden die anderen eifersüchtig und möchten auch mehr Orangen haben. Deswegen ist es sehr wichtig, dass jemand vorangeht.
So ist es für mich sehr nützlich, über die Nahostgemeinschaft mit der Europäischen Gemeinschaft als konkretes Beispiel zu reden. Und dann kommt von Israel: „Sie vergleichen uns mit Deutschland.“ Das ist ja das Schlimmste, was man sagen kann. Aber ich antworte: „Nein, ich habe nicht gesagt, dass ihr Nazis seid, ich habe nur gesagt, dass ihr etwas schwer verdaubar seid – wie Deutschland. Und jemand hat einen Verdauungsmechanismus gefunden, das ist die Gemeinschaft. Ich schlage dasselbe vor.“

Sollen eigentlich mehr Frauen in die Politik und die Medien?

Bestimmt, und besonders jüngere Frauen. Das Wichtige aber sind Frauen ohne Regierungsmacht. Man hat weitaus mehr Möglichkeiten auf Nichtregierungsebene. Ich habe sehr viel mehr Einfluss in der Welt als der norwegische Außenminister. Weil ich frei und unabhängig bin, habe ich zu fast allen Zugang. Und die sagen zu mir: „Wir sind nicht immer einverstanden mit dem, was du sagst, aber wir wissen, dass nichts dahinter steckt.“ Ich und andere NGO-Leute haben keine geheime Agenda, wir möchten keinen Militärstützpunkt oder ähnliches. Das ist unser Vorteil.

Vielen Dank fĂĽr das Interview.

von Johannes Eberenz, Ellen Holder
   

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