04.11.2008
Literatur ohne Bücher
Computerspiele in der Sprachwissenschaft
Wer im Internet auf einen Link klickt, springt von einer Seite zu einer anderen. Ist das eine neue Form von Literatur? Der Anglist Paul Schnierer sieht im Internet und Computerspielen Parallelen zum herkömmlichen Geschichtenerzählen.
Für die meisten Leute ist es heute so selbstverständlich, dass sie gar nicht darüber nachdenken: Wenn man beim Surfen im Internet auf einen Link klickt, springt man von einer Seite zu einer anderen, die hoffentlich Information zu dem Begriff im Link enthält.
Die Struktur, dass man auf Anfrage von einem vorhandenen Text zu weiteren im Zusammenhang stehenden Texten wechseln kann, wird in der Literaturwissenschaft als Hypertext bezeichnet. Während die Hypertextstruktur im Internet jedoch meist dazu dient, der gigantischen Informationsfülle Herr zu werden, dürfte es weniger bekannt sein, dass es auch Hypertextfiktion gibt.
Die Hypertextfiktion ist eine junge Sparte, die es kurz vor der Entwicklung des Internets schon in gedruckter Form gab. In Buchform handelt es sich um sogenannte Abenteuerbücher, die in der Zweiten Person geschrieben sind und den Leser nach mehr oder weniger langen Abschnitten vor einer Handlungsentscheidung stellen. Je nach Wahl führt ihn die Entscheidung auf eine völlig andere Buchseite. Elektronische Hypertextfiktion, die es seit etwa 1980 gibt, funktioniert ähnlich; nur das Umblättern spart man sich.
Details des Hypertextes
Eine Geschichte in Hypertextform unterscheidet sich von einer normal geschriebenen Geschichte durch ihren nonlinearen Aufbau. Ein Resultat dieses Aufbaus sind mehrere Handlungsstränge und auch mehr als ein mögliches Ende. Professor Paul Schnierer vom Anglistischen Seminar, der an Hypertexten forscht, macht in Seminaren oft die Erfahrung, dass ein Teil seiner Studenten Textdetails kennen, die ihm und auch anderen Studenten verborgen sind und umgekehrt.
Hypertextfiktion existiert heute im Internet in einer großen Fülle. Es gibt beispielsweise „Penetration“, ein Gedicht in traditioneller Form, wo man vor jeder Strophe aus mehreren Wörtern eines herauspicken muss, damit das Gedicht fortgesetzt werden kann. Dann gibt es 253, bei dem 252 Passagieren und ein Fahrer einer Londoner U-Bahn alle jeweils eine persönliche Geschichte von 253 Wörtern besitzen, wobei diese Geschichten in einem seltsamen Netzwerk zusammenhängen.
Sind Hypertexte Literatur?
Ein weiteres Medium, bei dem Hypertextfiktion seit Jahren ein fröhliches Dasein führt, ist die breite Sparte der Computerspiele, namentlich die Adventure- und Rollenspiele. Während der textliche Aspekt oft untergeordnet ist, sind sie dennoch bei den etwas älteren Spielen ein wesentliches Mittel zur Narration und zur Lenkung der Spielerhandlung.
Für Schnierer, der sich mit Grenzen der Literatur befasst, wird die Sache dann interessant, wenn man sich die Frage stellt, ob Hypertexte auch als Literatur im wissenschaftlichen Sinne gelten können. Er macht auch keinen Halt davor, die in Computerspielen auftauchende Hypertextfiktion miteinzubeziehen.
Diese Frage zu beantworten stößt aber auf einige Hindernisse. Kopfzerbrechen macht es den Forschern häufig, dass sie die Struktur und die Quantität eines Hypertextes ohne Kenntnisse des Autors nicht vollständig erfassen können. Besonders bei einem elektronischen Hypertext ist es nicht festzustellen, wie dick das Buch eigentlich ist.
Computerspiele sind Grenzformen der Literatur
Ein weiteres Problem ist, dass es kein allgemein anerkanntes Bewertungssystem gibt. Allein die Frage „Was macht einen guten Hypertext aus?“ ist noch Diskussionsgegenstand. Was jedoch klar ist: Für Hypertexte müssen andere Kriterien gelten als für einen klassischen Text. Auf die Frage hin, ob er auch manche Computerspiele als eine Grenzform der Literatur sehe, bejahte Schnierer, wobei er mit Nachdruck auf gegenteilige Meinungen seiner Kollegen hinwies.
Was er sich für die Zukunft wünscht ist ein sogenanntes „literarisches Computerspiel“, bei dem das Skript von einem Literaten verfasst wird. Allerdings meint er, dass so etwas bereits existieren könnte, „aber die Computerspielsparte ist in den letzten Jahren so groß geworden, dass ich es aufgegeben habe die Entwicklung als Spieler weiterzuverfolgen.“
von Xiolai Mu