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04.11.2008

Wie ein Lehrerstreik eskalierte

Das mexikanische Oaxaca ist Schauplatz brutaler Auseinandersetzungen

Rot, weiĂź und grĂĽn beherrschen vor dem Nationalfeiertag am 16. September das StraĂźenbild im mexikanischen Chetumal. Vor dem Amtssitz der Landesregierung protestieren SchĂĽlern und Eltern dafĂĽr, dass es wieder Unterricht gibt.

Chetumal, die Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Quintana Roo, liegt an der Grenze zum südlichen Nachbar Belize. Rot, weiß und grün beherrschen einige Tage vor dem Nationalfeiertag am 16. September das Straßenbild. Auch der Amtssitz der Landesregierung ist mit Girlanden in den Landesfarben geschmückt. Vor dem Gebäude versammelt sich eine kleine Demonstrantengruppe von Schülern und Eltern. Sie haben Plakate dabei, lassen ihre Trillerpfeifen ertönen und rufen „Quremos clases“ – Wir wollen wieder Unterricht haben.

Drei Wochen lang standen die Klassenzimmer im gesamten Mexiko zu diesem Zeitpunkt schon leer. Davor hatte es nach den Sommerferien gerade mal ein paar Tage regulären Unterricht gegeben – Lehrerstreik ist in dem mittelamerikanischen Land keine Seltenheit, denn die Arbeitsbedingungen sind schlecht und die Löhne niedrig.

Zwei Jahre ist es nun her, dass solch eine Arbeitsverweigerung der Lehrer in Oaxaca, einem anderen Bundesstaat im Süden Mexikos, eskalierte. „Es fühlte sich an wie Krieg“, erzählt Leticia, die in Oaxaca-Stadt als Spanischlehrerin arbeitet, „man hat sich praktisch gar nicht mehr aus dem Haus getraut“. Dort, auf den Straßen und Gassen, begann der Streik mit etwa 70 000 Lehrern im Mai 2006.

„Die Politik hierzulande ist scheinheilig“

Schon bald entwickelte er sich zu einem regelrechten Volksaufstand. Nachdem die Polizei gewaltsam gegen die demonstrierenden Pädagogen vorgegangen war, schlossen sich auch Studenten, indigene Organisationen und linke Gruppen der Protestbewegung an. Organisiert in der APPO, der „Versammlung der Bevölkerung Oaxacas“, wurden Radiosender besetzt und die Innenstadt um den zentralen Platz, den Zócalo, verbarrikadiert. „Ein Durchkommen war nicht mehr möglich“, so Lehrerin Leticia.

Auch die Forderungen änderten sich: Ziel der APPO war ganz konkret der Rücktritt des Gouverneurs von Oaxaca, Ulises Ruiz Ortiz, dem Korruption und Repression vorgeworfen wurde. Diese Beschuldigung bestätigt Leticias Kollege Miguel, der Spanisch und Englisch unterrichtet, auch noch heute: „Die Politik ist hierzulande generell scheinheilig. Auf den ersten Blick ist alles perfekt, aber es gibt enorme Probleme, vor allem in den Bereichen Bildung und Gesundheit.“ Er sitzt auf seinem Plastikstuhl in dem kleinen Klassenzimmer und beißt in einen Apfel, den er beim Erklären von Grammatikregeln immer isst. In seinem Unterricht weicht Miguel oft und gerne vom eigentlichen Thema ab – so auch diesmal.

„Pueblos“ im Abseits

Ein Grund für die Ausweitung des Konflikts 2006 sei seiner Meinung nach, dass die Leute auf den „pueblos“, den Dörfern auf dem Land, oft gar nicht wissen, was vor sich geht – so, als ob sie nicht existierten. Im Abseits der 265.000-Einwohner-Stadt liegen auch ihre Interessen und Probleme: Niedriges Einkommen sowie nahezu kein ökonomischer Fortschritt würden den Missmut und die Unzufriedenheit verstärken. Da liegt die Unterstützung von einem Protest gegen die Landesregierung nahe.

Miguels Lieblingsthema ist allerdings die nicht endende Bestechlichkeit öffentlicher Verwaltungseinrichtungen. Ein Beispiel: Drei Monate lang hatte seine Familie kein Leitungswasser mehr. Jegliche Beschwerden landeten in einer Sackgasse, da Lehrer Miguel immer wieder auf einen anderen Verantwortlichen verwiesen wurde. Ganz schnell ging jedoch alles, als er vorschlug, mehr für die Wasserzufuhr zu bezahlen.

„Touristen, haut ab“

Um die Situation vor zwei Jahren zu entschärfen, griff schließlich die Bundespolizei ein. Tränengas wurde eingesetzt, Schüsse fielen, es gab zahlreiche Schwerverletzte und mehr als ein Dutzend Tote, darunter ein amerikanischer Journalist.„Man wusste gar nicht mehr, wer Freund und wer Feind war“, so die 38-jährige Leticia. Für die Kolonialstadt war der Ausnahmezustand verhängt worden.

Mexikanische und internationale Menschenrechtsorganisationen warfen Gouverneur Ruiz vor, Gefangene massiv zu misshandeln. Mehrere hundert Menschen verschwanden spurlos. Sogar das alljährliche und weltweit bekannte „Guelaguetza“-Festival, eine Art Erntedankfest im Juli, musste entfallen. Wandparolen der APPO warnten vor einem Urlaub in der traditionellen Zapotekenstadt: „Touristen, haut ab!“ In Oaxaca regierte die Zerstörung.

Regierung drohte SchĂĽlern mit Sitzenbleiben

Der ganze Staat bekam den Besucherschwund zu spüren. Kaum jemand besichtigte die archäologischen Ruinen Monte Albán und Mitla, Zeugnisse zapotekischer und mixtekischer Hochkulturen. Hotels und Restaurants mussten schließen, und die Tourismusbranche an der Pazifikküste verzeichnete schwere Einbußen. Ende Dezember 2006 drohte die Regierung damit, dass alle Schüler eine Stufe wiederholen müssten, ginge es nicht weiter mit dem Unterricht.

Die Lehrer kehrten in die Klassenräume zurück, die APPO entfernte letzte Barrikaden, einige APPO-Führungskräfte verschwanden im Untergrund, um Verhaftungen zu entgehen. Allmählich kehren dafür wieder die Touristen aus dem Ausland zurück. Statt ausgebrannter Autos prägen das Stadtbild nun wieder die Kunsthandwerker, deren handgewebte Teppiche, Tongefäße und bemalte Holzfiguren berühmt sind für die Gegend.

Nur Grafittis erinnert an die Gewalt

Zwar sind die politischen Probleme noch lange nicht gelöst, Ulises Ruiz Ortiz ist immer noch im Amt und lächelt freundlich auf der Homepage der Regierung. Auch Demonstrationen auf dem Zócalo sieht man alle paar Tage, wenn die „Campesinos“, die Bauern mit ihren Cowboyhüten, oder Studenten mit riesigen Bannern friedlich ihre Forderungen stellen.
Wenn man heute durch die Gassen Oaxacas schlendert, ist ein derart brutaler Konflikt jedoch unvorstellbar.

Außer den vielen politisch motivierten Graffitis an den Hauswänden erinnert nichts mehr an die Straßenschlachten, auch wenn die sozialen Probleme fortdauern. Viele der Ausländer wissen vermutlich nicht einmal, was sich vor knapp zwei Jahren in dieser so bunten und lebendigen Stadt mit den herzlichen Menschen ereignet hat.

Der Lehrerstreik war diesmal allerdings nur von kurzer Dauer. Zwei Wochen später titeln mexikanische Zeitungen „Tenemos clases“ – der Unterricht kann weitergehen.

von Stefanie Fetz
   

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