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 Wissenschaft
04.11.2008

Wissenschaft lautlos

Interview mit zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen

Gehörlose Wissenschaftler sind bei Fachkonferenzen auf Dolmetscher angewiesen. Oya Ataman und Kathleen Milker sind Dolmetscher fĂĽr Gebärdensprache und erzählen aus ihrem ungewöhnlichen Alltag.

Wenn gehörlose Wissenschaftler an Fachkonferenzen teilnehmen wollen, sind sie auf Dolmetscher angewiesen, die englischsprachige Vorträge in Gebärdensprache dolmetschen können – und das inklusive Fachvokabular. Bei der Internationalen Konferenz für Multiphotonenprozesse (ICOMP), die im September am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik stattfand, haben die Dolmetscherinnen für Gebärdensprache Oya Ataman und Kathleen Milker für den Berliner Quantenphysiker Ingo Barth simultan gedolmetscht.

ruprecht: Wie kommt man auf die Idee, Dolmetscher für Gebärdensprache zu werden?

Kathleen Milker: Bei mir war es reines Interesse für die Gebärdensprache. Bis ich etwa 18 war, wusste ich davon nicht viel, habe dann aber das Studium aufgenommen, auch weil ein entsprechender Studiengang in meiner Nähe angeboten wurden.

Oya Ataman: Ich gehöre noch zu der Generation derjenigen Dolmetscherinnen, die das Gebärden von klein auf in der Familie gelernt haben, dadurch dass ein Familienmitglied gehörlos ist. Häufig werden diejenigen, die die Gebärdensprache beherrschen, in die Rolle des Dolmetschers gedrängt, obwohl beim Dolmetschen viel weiter gehende Fähigkeiten benötigt werden.
Dafür gibt es in Deutschland inzwischen Studiengänge an einigen Hochschulen und berufsbegleitende Ausbildungen. Das Berufsbild ist aber noch sehr jung, erst in den neunziger Jahren hat man angefangen, das Gebärdensprachdolmetschen zu professionalisieren und fundierte Ausbildungen anzubieten.

Wann wird das Dolmetschen besonders schwierig?

Ataman: Viele Vortragende nuscheln oder sprechen mit starkem Akzent englisch. Dann wird es rein akustisch schwierig, das zu dolmetschen. Wir bereiten unsere Verdolmetschung anhand der Abstracts vor, die im Vorfeld der Konferenz herausgegeben werden. Es kommt aber vor, dass sich einer überhaupt nicht an das hält, was im Abstract angekündigt wurde, oder gar keines eingereicht hat. Dann müssen wir improvisieren.

Sie haben auch Hilfsmittel dabei, einen Spiegel und ein Laptop.

Milker: Der Input an Informationen, den wir aus dem Vortrag bekommen, ist ja meistens lückenhaft, weil der Redner Gedankensprünge macht, undeutlich redet oder etwas zu sagen vergisst. Das versuchen wir zu überbrücken, indem wir über den Spiegel sehen, wohin der Vortragende zeigt, und auf dem Laptop die Präsentation mitlaufen lassen, um Namen und Begriffe ablesen zu können.

Ataman: Die größere Herausforderung liegt allerdings nicht im rein sprachlichen Übertragen, sondern darin, dass aufgrund der kulturellen Unterschiede zwischen Laut- und Gebärdensprache Diskriminierungen auftreten.

Dass zum Beispiel eine Frage an den Übersetzer gerichtet wird anstatt an den gehörlosen Konferenzteilnehmer?

Ataman: Das ist ja noch harmlos! Nein, Gehörlose werden häufig nicht für voll genommen. Das kommt beim Community-Dolmetschen, also wenn Gehörlose in Alltagssituationen von Übersetzern unterstützt werden, noch häufiger vor als beim Konferenzdolmetschen. Die Hörenden sehen dann, dass der Gehörlose eine schnelle Handbewegung macht, und der Dolmetscher übersetzt das dann in ziemlich viele Worte. Da entsteht leicht der Eindruck, der Gehörlose könne das so gar nicht gesagt haben, er wird also als Gesprächspartner nicht wahr- oder nicht ernst genommen, was zu Bevormundungen führen kann.

Haben Sie sich auf Physik spezialisiert oder dolmetschen Sie auch andere Fachbereiche?

Milker: Eine echte Spezialisierung während der Ausbildung gibt es nicht, es kommt einfach darauf an, welche Erfahrungen man im Berufsleben sammelt. Ich dolmetsche viel im technischen Bereich, da liegt es nahe, auch für einen Physiker zu arbeiten.

Ataman: Ich habe immer viel Mathematik gedolmetscht, weil ich mich dafĂĽr interessiere. Vieles aus diesem Bereich brauche ich auch fĂĽr die Physik.

Diese Konferenz ist hochspezialisiert, hier werden Fragen diskutiert, die weltweit nur ein paar Hundert Leute beschäftigt. Verstehen Sie denn, was Sie übersetzen?

Ataman: Verstehen Sie denn alles?

Das kommt auf den Sprecher und das Thema an.

Ataman: Sehen Sie, so geht uns das auch.

In den letzten Tagen war ständig die Rede von Quanteninterferenzen, Nanoplasmen und Wellenfunktionen. Gibt es solche Fachwörter im Gebärdensprachvokabular?

Ataman: Nein. Für alles, was es noch nicht gibt, vereinbaren wir mit unseren Kunden bei einem Vorbereitungstreffen Gebärden. Können Sie mal eins vormachen – zum Beispiel das für hohe harmonische Strahlung?

Milker: Das ist ganz einfach! (Sie macht mit den Fingern drei Zeichen und buchstabiert dabei: H–H–G – die unter Physikern gebräuchliche Abkürzung für den Fachbegriff.)

Sie bedienen sich also bei den Akronymen?

Milker: Stimmt, Akronyme sind eine große Hilfe. Außerdem kann man situative und räumliche Informationen mit Gebärden oft viel präziser darstellen als mit der Lautsprache, was daran liegt, dass die Denkstruktur der Gebärdensprache per se räumlich ist, während die der Lautsprache linear strukturiert ist.

Das klingt, als wären Gebärden die ideale Sprache für physikalische Zusammenhänge.

Milker: Es ist zumindest einfacher, gleichzeitig ablaufende Dinge oder räumliche Anordnungen darzustellen – was in der Physik ja häufig eine wichtige Rolle spielt. Dann ist die Gebärdensprache in sehr kurzer Zeit sehr konkret.

OA: Wenn Dolmetscher ausführliche Sätze in wenige Bewegungen oder umgekehrt eine schnelle Handbewegung in einen ellenlangen Satz übertragen, denken viele, die Gebärdensprache sei eine Abkürzungssprache. Das ist sie aber nicht. Wir lassen nichts weg oder verknappen, die Gebärdensprache hat einfach ganz andere Möglichkeiten.

Wie hoch ist der Bedarf an Dolmetschern fĂĽr Fachkonferenzen?

Ataman: Es gibt sehr unterschiedliche Prognosen. Eine davon besagt, dass Gehörlose aussterben, weil in Zukunft das Gehör durch technische Hilfsmittel, also entsprechende Implantate, wiederhergestellt werden kann.
Andererseits haben Gehörlose heute mehr Möglichkeiten als früher, anspruchsvolle Berufe auszuüben, für die sie dann Dolmetscher brauchen. Das hat auch dazu geführt, dass wir für unsere Arbeit mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit bekommen – allerdings macht sich das wirtschaftlich nicht bemerkbar.

Milker: Es ist auch nicht so, dass ein Implantat das Gehör so vollständig repariert, dass man anschließend problemlos eine Konferenz verfolgen kann ...

Ataman: ... aber in Deutschland ist man eben technikgläubig. In den USA ist das anders, dort werden Gehörlose zu Recht als kulturell-sprachliche Minderheit gesehen und nicht als Behinderte, die technisch geheilt werden können.

Vielen Dank für das Gespräch.

von Helga Rietz
   

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