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24.10.2008

Forró: Der Tanz des Pöbels

Jeden Juli mutiert das Dorf Itaúnas zur größten Tanzfläche Brasiliens

Im brasilianischen Itaúnas bebt der Holzboden unter den schnellen Schritten tanzender Paare. Junge Leute aus dem ganzen Land hauchen dem Küstendorf jeden Sommer Festival-Atmosphäre ein: Den Pulsschlag bestimmt dann der Forró.

Rio de Janeiro kann an einem Montag im Juli unerwartet ruhig sein: Tagsüber verzweifeln die Souvenir-Verkäufer an der mangelnden Kundschaft. Nachts streunen minimal bekleideten Hookers über die verwaiste Avenida Atlántica an der Copacabana. Einige rappen mit betontem Sexappeal die aktuellen Hits des Baile Funk mit Texten weit unter der Gürtellinie. Die Musikrichtung ist Rios Antwort auf karibischen Dancehall und Reggaetón oder argentinischen Cumbia Villera.

Am selben Tag bebt 800 Kilometer nördlich an der Atlantikküste der provisorische Holzboden unter den schnellen Schritten tanzender Paare. Junge Leute aus dem ganzen Land hauchen dem verträumten Küstendorf Itaúnas im Juli für zwei Wochen Festival-Atmosphäre ein. Den Pulsschlag bestimmt dann der klassische brasilianische Tanz Forró.

Den ganzen Tag über Forró tanzen

Ein Großteil der 5000 Besucher des Festival Nacional de Forró reist aus den Metropolen des Landes an und nehmen dafür Stecken von über 1300 Kilometern in Kauf. Sie kommen in ihren Winterferien, um ein paar Strandtage zu genießen. Die Hauptgetränke sind Skohl-Bier oder der süße Catuaba-Wein, dem man aphrodisierende Wirkung zuschreibt. Doch im Mittelpunkt steht Forró zu tanzen. Und das paarweise und den ganzen Tag über: Sei es nachmittags auf den ungeteerten Straßen, am frühen Abend auf einer spontanen Vor-Party oder nachts beim Konzert des offiziellen Wettbewerbs. Sie tanzen eng umschlungen, dabei aber stilvoll distanziert, langsam, fast stehend, mit kreisender Hüfte beim Xote oder rasant mit fliegenden Beinen und schnellen Drehungen zum Xaxado. Beide Spielarten des Forró haben ihre Wurzeln im Nordosten Brasiliens.

Dort organisierten angeblich die britischen Arbeiter zur Eröffnung der "Great Western of Brazil Railway" ein großes Fest "for all". Dieses "für alle" gilt als etymologische Geburtsstunde des Forrós. Eine andere Theorie erscheint jedoch logischer: die Ableitung des Wortes "Forrobodó", was so viel wie "Tanz des Pöbels" bedeutet.

Die musikalische Symbiose des Forró entsteht durch das Zusammenspiel von drei Instrumenten: Den Rhythmus bestimmt die Zabumba, eine afrikanische Rahmentrommel, die Melodien bestimmt das Akkordeon und den Takt gibt die Triangel vor. "Die Texte der Lieder stehen weniger im Vordergrund", erklärt Christian (22), der seit seinem zehnten Lebensjahr Zabumba spielt. "Sie können manchmal anzüglich erheitern oder erzählen von der Liebe, aber Kopfzerbrechen bereiten sie nicht." Theoretische Gedanken zum Forró fallen ihm schwer. Er hat eher die Musik im Blut. 

Dieses Jahr nimmt Christian zum ersten Mal selbst mit seiner "Trio Façuá" am Wettbewerb teil. Zusammen mit 23 anderen Newcomer-Bands buhlt er in der Vorrunde um die Punkte der Jury. Christians Ziel ist unter die ersten zwölf zu kommen und damit auf der offiziellen Festival-CD vertreten zu sein. Dem Gewinner winkt ein Preisgeld von 800 Euro.

Der Durchbruch kam in den brasilianischen Metropolen

Xico Bizerra sticht durch seine füllige Figur und volle graue Lockenpracht hervor. Der über 60 Jahre alte Musiker stammt aus Recife und komponiert seit Jahrzehnten Forró. Er produziert jährlich den Sampler "Forroboxote" und ist Jurymitglied des Festivals. "Forró ist ein Musik- und Tanzstil, der unabhängig von afrikanischen oder karibischen Einflüssen in Brasilien entstanden ist. Trotzdem ähneln die schnellen Stücke dem Salsa oder Merengue. Manchen erinnern die langsamen Lieder auch an den Offbeat des Reggae." Einige Tanzschritte gleichen auch dem Lambada, der Ende der 80er in Europa einen Sommer lang populär war und ebenfalls aus dem Nordosten Brasilien stammt.

Die Gallionsfigur des Forrós bleibt der 1989 verstorbene Luis Gonzaga. Er verbreitete den Forró in den vierziger und fünfziger Jahren in den brasilianischen Großstädten. Sein Publikum waren die aus dem Nordosten Brasiliens stammenden Arbeiter. "In Metropolen wie Sao Paolo entwickelten sich moderne urbane Stile. Hier in Itaúnas spielen die Bands noch den klassischen Forró nach ihrem Vorbild Gonzaga", lobt Juror Bizerra. Ein gleichaltriger, aber nur halb so großer Mann neben ihm ergänzt: "Hier gibt es nicht so viele Ellbogenschläge, wie in den Tanzhäusern der Städte. Wer hier herkommt, kann wenigstens tanzen!" 

Ein Tanz der keine Regeln kennt

Er hat offensichtlich Recht: Gut tanzen kann hier fast jeder. Dabei fasziniert, dass jeder mit jedem tanzt und alles nur darauf fixiert scheint. Kleidungsvorschriften gibt es nicht. Fast alle tanzen entspannt im Sommer-Outfit und barfuß. Nur wenige tragen Flip-Flops. Ein gemeinsamer Tanz, bei dem die Frau förmlich auf dem Oberschenkel ihres Tanzpartners klebt, während ihr Schweiß an seiner Wange herunterperlt, ist jedoch kein Freipass zum Flirten. Es gibt keine Regeln wie etwa beim schwermütigen argentinischen Tango. 

Ein klobiger Kerl, der einem Vorstadt-Fitnessstudio entspringen könnte, verschmilzt elegant für ein paar Minuten mit einer jugendlichen Hippie-Schönheit. Der Typ mit dem Koks und dem Goldkettchen fällt mit seiner zwei Köpfe größeren Tanzpartnerin in dieser Melange brasilianischer Mittelschichtler nicht auf. 

Forró ist längst nicht mehr ein "Tanz des Pöbels", sondern ist in der Mitte der brasilianischen Gesellschaft angekommen. In weiten Teilen Brasiliens ist er außerhalb des Karnevals genauso so beliebt wie Samba.

Forró-Zentrum Itaúnas 

Die 17-jährige Josey betrachtet das Treiben schüchtern vom Rand der Tanzfläche. "Nur zu Neujahr und an Karneval kommen so viele Leute nach Itaúnas", berichtet sie. Josey hat während des Festivals einen Job beim Proyecto Tarmar bekommen, das an Brasiliens Küste als Geburtshelfer für Meeresschildkröten agiert. Die vier Vollzeitkräfte verstärken im Juli elf zusätzliche Aushilfen, die die Touristen im Hauptquartier der Herpetologen über Karett- oder Suppenschildkröten informieren.

Dort am Ortsrand beginnt auch der Naturschutzpark, durch den ein drei Kilometer langer Weg zum Strand führt. Riesige Dünen schirmen den schmalen Sandstrand ab. Unter den Sandmassen ist der ursprüngliche Ort Vila de Itaúnas begraben, wo in 1872 noch 691 Einwohner und 91 Sklaven lebten. Heute beherbergt der neue Ort kaum mehr Einwohner, aber eben das bedeutendste Forró-Festival Brasiliens. Glaubt man dem Akkordeonspieler Osvaldinho, der selbst vor Jahren in Itaúnas antrat und laut seiner Aussage seit dem für Königinnen und Könige musizierte, gibt es keine größere Ehre als auf der Bühne der hiesigen Bar Forró aufzutreten.

Szenegrößen wie "Mestre Zinho" oder das "Trio Xamego" komplettieren das Festivalprogramm. Starkult gibt es dennoch nicht. Tanz und Musik stehen im Mittelpunkt, wenn der braungebrannte Surfer in seiner Billabong-Short und dem neogelben Palmeiras Trikot, das rausgeputzte Stadtmädchen im Zwei-Viertel-Takt über den sandigen Boden führt.

Alle Besucher werden zu Hause in den Clubs der Metropolen bestimmt auch wieder zu Elektro, Rock oder besagtem Funk Carioca tanzen. Forró wird wieder einer von vielen Tanzschritten sein, aber dennoch mit eigenen Regeln und einem höflichen Flair.

von Viktor Coco

von Viktor Coco
   

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