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07.12.2010

Gemeinderat oder Bürgerschaft

Sollten die Heidelberger Bürger den Stadthaushalt mitgestalten?

Der Stadtkasse fehlen in den kommenden zwei Jahren wohl rund 107 Millionen Euro. Die Bürger wurden nun erstmals vorab darüber informiert, wie der Haushalt aussehen soll. Nach wie vor entscheidet der Gemeinderat darüber. Die Grünen fordern nun beim Haushalt mehr Mitbestimmung durch die Bürger.

Der Stadtkasse fehlen in den kommenden zwei Jahren wohl rund 107 Millionen Euro. Die Bürger wurden nun erstmals vorab darüber informiert, wie der Haushalt aussehen soll. Nach wie vor entscheidet der Gemeinderat darüber. Die Grünen fordern nun beim Haushalt mehr Mitbestimmung durch die Bürger.

JA

Claudia Hollinger
Heidelberger Stadträtin (Bündnis 90/Die Grünen)

Ja – wir brauchen einen Bürgerhaushalt und andere Formen der Beteiligung, wenn wir darunter verstehen, dass wir die Menschen in dieser Stadt tatsächlich beteiligen wollen und nicht nur eine schmucke Verpackung dafür  suchen, den Menschen zu erklären, was das Beste für sie ist. Wenn das Geld knapp ist – und das ist es meistens und zurzeit aufgrund der wirtschaftlichen Lage besonders – müssen wir entscheiden, was notwendig, was „nice to have“ und was „Luxus“ ist. Und nur, wenn wir diese Fragen in einem offenen Dialog miteinander erörtern,
macht das Zusammenleben Spaß.

Klar: Erstmal wurden die Stadträte von den Bürgern und Bürgerinnen gewählt, um diese Entscheidungen verantwortungsvoll zu treffen. Die spannende Frage ist: wie treffen wir diese Entscheidung? Am besten mit den Menschen gemeinsam, die hier leben und betroffen sind oder besser gesagt, im Dialog mit ihnen.

Bürgerbeteiligung stellt Entscheidungen auf breitere Fundamente, es werden unterschiedliche Blickwinkel und Interessen berücksichtigt und „schwarze Flecken“, also Dinge, die man eben nicht sieht, verhindert oder zumindest verringert.

Wie die Beteiligungsformen so ganz konkret aussehen werden, wissen wir auch noch nicht. Um das herauszufinden, müssen wir verschiedene Formen ausprobieren. Da wird das eine funktionieren und das andere nicht.

In Tübingen hat der Gemeinderat die Bürger mit einem Fragebogen befragen lassen. Nun liegen die Ergebnisse vor, einige sind erwartbar, andere aber nicht. Jetzt können die politisch Handelnden überlegen, wie sie mit den Ergebnissen umgehen. Ich sehe darin eine große Chance! Ich kann und ich muss nicht alles alleine entscheiden, sondern bekomme Unterstützung. Ein Abwägen in der Sache muss es dabei immer geben. Bei direkten Formen wie einem Bürgerentscheid können die Bürger selbst entscheiden – müssen es aber auch. Auch wenn sie sich natürlich enthalten können, was aber wieder eine Entscheidung ist. Wenn ich die Abwehr erlebe, die sich gegen Beteiligungsformen breit macht, frage ich mich: Woher kommt die Angst der Entscheider vor dem Volk? Ich kann es mir nur so erklären, dass man sich vor dem Ungewohnten fürchtet oder keine Lust auf die Arbeit und die Reflexion hat, die dann nötig wird.

Es wird zweifellos schwieriger, eigene Interessen und die seiner Klientel zum Maßstab zu machen. Und es wird nicht jedem gefallen, dass mit der Bürgerbeteiligung auch eine ganz neue Form der Transparenz einhergehen wird. Entscheidungsprozesse werden deutlich transparenter. Denn wenn ich beteiligen lassen will, müssen die Entscheidungen und die Entscheidungsverantwortlichkeiten immer klar sein. Und da wird es dann öfter mal schwierig.



NEIN

Ursula Lorenz
Heidelberger Stadträtin (Freie Wähler)

Grundsätzlich ist jeder städtische Haushalt ein Haushalt für die Bürger unserer Stadt. Der Oberbürgermeister erarbeitet mit der Verwaltung die groben Vorgaben für den Haushalt in Kenntnis der erwarteten zur Verfügung stehenden Mittel und der Ziele der weiteren Entwicklung der Stadt. Der größte Teil der Finanzmittel ist von vornherein durch gesetzliche Vorgaben festgelegt: zum Beispiel Gehälter, Gebäudeunterhalt, Schulen und anderes.

Wir sprechen also über einen Teilhaushalt, bei dem es Spielraum für Schwerpunkte aus der Politik gibt. Das sind die freiwilligen Leistungen. Hier haben schon immer die Bürger in vielen Einzelgesprächen die Belange beispielsweise der Vereine, der Kulturtreibenden oder der Sozialeinrichtungen an die Fraktionen eingebracht.

Die Parteien und Gruppierungen haben danach Schwerpunkte gesetzt. Das ist nach meinem Verständnis Bürgerbeteiligung, das Ergebnis ein Bürgerhaushalt. Mit der Veranstaltung am 12. November zur Information über den Haushalt 2011/12 ist erstmalig die Möglichkeit einer frühen Bürgerinformation angeboten worden. Von mehr als 100 000 wahlberechtigten Bürgern waren höchstens 150 gekommen. Diese magere Beteiligung zeigt, dass offenbar die Vertreter der Bürgerbeteiligung fordernden Parteien die Wünsche der Bevölkerung überschätzen.

Bürgerentscheidungen sind ein Instrument der unmittelbaren Bürgerbeteiligung. Sie setzen jedoch eine umfassende und sachliche Information und Diskussion im Vorfeld voraus. Die Beteiligung sollte von Beginn an stattfinden. Leider wachen die Bürger erst unmittelbar vor der Umsetzung geplanter Projekte auf. Sie lassen sich dann auch leichter instrumentalisieren.

Die meisten Bürgerentscheide waren bisher gegen Projekte, nicht für solche gerichtet. Das ist für langfristige Zukunftsprojekte nicht förderlich. Der städtische Haushalt ist das komplizierteste aller Projekte, über die der Gemeinderat entscheiden muss. Wir haben über tausend Einzelposten zu bearbeiten und ihre Notwendigkeit abzuwägen.

Der Haushalt 2009/10 bringt ganze zwei Kilo Papier auf die Waage! Er wird von uns mehrfach durchgearbeitet. Zusatzanträge sollten nur mit Gegenvorschlag der Einsparmöglichkeiten an anderen Positionen eingebracht werden. Damit ist auch der interessierte Bürger in meinen Augen überfordert.

Nicht zuletzt: wir haben die repräsentative Demokratie. Entscheiden können nur gewählte Repräsentanten, sprich Gemeinderäte. Die Gemeindeordnung kann nicht durch Wunschdenken außer Kraft gesetzt werden. Die interessierten Bürger können nur über den Weg der Kommunikation mit ihren gewählten Vertretern am Haushalt mitwirken. Direkte Mitentscheidung ist nicht möglich und aus den oben ausgeführten Gründen auch nicht sinnvoll.



Was ist der „Bürgerhaushalt“?

Bei einem Bürgerhaushalt dürfen die Einwohner über einen Teil des Haushalts selbst entscheiden. Grundsätzlich geht es dabei immer nur um Geld, das investiert werden kann: zum Beispiel in Parkanlagen, Verkehrskreisel, oder einen neuen Tunnel.

Das Modell sieht vor, dass sich die Bürger selbstständig einigen, wofür Geld ausgegeben wird; zum Beispiel in Diskussionsrunden oder im Internet. Wirklich entscheiden können die Bürger in Deutschland aber nicht. Nur der demokratisch legitimierte Gemeinde- oder Stadtrat kann einen Haushalt beschließen. Bürgerhaushalte in Deutschland sind also eigentlich keine echten Entscheidungen, sondern nur unverbindliche Vorschläge.

Entstanden ist das Modell „Bürgerhaushalt“ in den 1980er Jahren in der brasilianischen Stadt Porto Alegre. Auch in Deutschland wurde es bereits in mehreren Städten erprobt, zum Beispiel in Essen, Köln und Freiburg. In Tübingen wurden im Oktober mehr als 1000 Bürger befragt, wie die Stadt ihren Haushalt konsolidieren soll.

von Beate Brehm
   

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