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20.12.2010

Im Land der Privilegierten

Wilhelm Tell erobert die moderne Schweiz - auf der OpernbĂĽhne

Mit einer Neuauflage der eidgenössischen Gründungsmythen versucht das Opernhaus Zürich eine Positionsbestimmung der Schweiz zwischen Moderne und Weltoffenheit und Heimatverbundenheit und Traditionsbewusstsein.

Foto: Susanne Schwiertz / Opernhaus ZĂĽrich

Mit einer Neuauflage der eidgenössischen Gründungsmythen versucht das Opernhaus Zürich eine Positionsbestimmung der Schweiz zwischen Moderne und Weltoffenheit einerseits und Heimatverbundenheit und Traditionsbewusstsein andererseits.

Von Helga Rietz aus ZĂĽrich (Schweiz)

Auf dem Weg vom Stadelhofer Bahnhof zur Tonhalle gehört es um diese Jahreszeit fast schon zum vorkonzertlichen Zeremoniell, dass den Konzertgästen auf der Quaibrücke die stolze Tradition schweizerischer Kochkunst unausweichlich entgegenschlägt. Das geschieht in Form und Erscheinung der „Fonduetram“, einer zum Restaurant umgebauten Straßenbahn. Innen sitzt man ums Caquelon versammelt und kann zwar nicht herausschauen – die Scheiben sind wegen der geschmolzenen Käsemassen stets beschlagen – darf dafür aber sicher sein, dass dem Fußvolk draußen die rollende Stinkbombe sicher nicht entgeht.

Das ist nicht die einzige Kuriosität, die der Gang über die Quaibrücke bietet: Rechter Hand liegt das Bauschänzli, auf dem seit Anfang November der Zirkus Conelli seine Zelte aufgeschlagen hat. Im Oktober stand am selben Platz noch ein mit blau-weißen Rauten gemustertes Zelt, aus dem unverkennbar bayerische Volksmusik dröhnte – und das von einer original Münchner Kapelle dargeboten. Auch die Serviermädels und die Dekoration werden jeden Oktober aus Bayern importiert, erklärt Urs Lingg, der Geschäftsführer des Bauschänzli. Damit findet in Zürich das vermutlich authentischste Oktoberfest der Welt statt. Nach München, natürlich.

Ein bisschen schizophren ist das schon, wie die Schweiz zwischen Weltoffenheit und mitunter fast feindselig zur Schau getragener Abschottung schwankt. Gerade hier in Zürich, wo sich Wirtschaft, kulturelles Leben und unübersehbarer Reichtum im Glanz des Importierten sonnen, während die SVP nebenher wieder mal die Abschaffung der Integration probt.

Wenige Tage nach der Volksabstimmung zur „Ausschaffungsinitiative“ fächeln sich die liberalen Städter in den medialen Kommentarspalten noch Luft zu: Ganz bestimmt hätte eine ähnliche Abstimmung in Deutschland, Frankreich oder Österreich ebenso viele Anhänger gefunden wie jetzt in der Schweiz. Die Gegner der Initiative hoffen jetzt, dass das Volksbegehren bei der Umsetzung im Parlament an Schärfe verliert. Denn die Forderung, straffällig gewordene Ausländer ohne Einzelfallprüfung sofort des Landes zu verweisen, kollidiert mit dem europäischen und dem Völkerrecht, so dass Nachbesserungen unumgänglich sind.

Inmitten der Nachbeben um die Abstimmung nähert sich in diesem Herbst eine Produktion des Opernhauses Zürich der Frage nach dem Seelenzustand der Schweiz. Seit Mitte November steht dort Gioacchino Rossinis „Wilhelm Tell“ auf dem Spielplan, die inoffizielle Schweizer Nationaloper. Im Vorfeld der auch international viel beachteten Premiere wies Regisseur Adrian Marthaler auf das komplizierte Spannungsfeld hin, in dem sich eine zeitgenössische Inszenierung des Nationalepos bewegt. Man könne die Tell-Legende nicht einfach so als Geschichte erzählen – zumindest nicht in der Schweiz. Schließlich habe es die habsburgische Besatzung, vor deren Hintergrund sich das Drama entfaltet, so nie gegeben. Der Tell-Mythos ist nach heutiger Sicht eine Erfindung des beginnenden 16. Jahrhunderts, der legendäre Rütlischwur geschichtswissenschaftlich längst „abgefrühstückt“.

Die habsburgischen Besatzer sind bei Marthaler denn auch finstere EU-Schergen in braun-grünen Bomberjacken, die sich unter dem Kommando sturer Bürokraten der Schätze des unterjochten Volks bemächtigen: eine riesige Packung Toblerone-Schokolade, dazu Appenzellerkäse, ein Goldbarren und goldene Ührchen, selbstverständlich dürfen weder Taschenmesser noch Kuhglocke fehlen. Die EU als Unterdrücker der tapferen Schweizer? Das wäre ja noch schöner.

Aus dem Publikum ist Raunen und vereinzelt Lachen zu vernehmen. Es folgt die Geschichte von Romeo und Julia auf der Alm, in den Hauptrollen die habsburgische Prinzessin und ein tüchtiger Schweizer. Hier nehmen auch die ironischen Seitenhiebe vorerst ein Ende, den Hauptteil der Legende erzählt Marthaler in einem harmlos konventionellen (Bühnen-)Bild von der Schweiz als beschaulichem Alpenstaat, bewohnt von kreuzbraven, rechtschaffenen Bürgern. Dann kommt, was kommen muss: Der Streit zwischen Talschaften und Habsburgern eskaliert, Wilhelm Tell schießt und trifft, wird verhaftet und wieder befreit, die Eidgenossen triumphieren, und die Prinzessin bekommt ihren Schweizer.

Aber gesungen wird phantastisch und das Zürcher Publikum, das ansonsten eher mit vornehmer Zurückhaltung auffällt, ist merklich hingerissen. Während in der Tonhalle oder beim Ballett auch exzellente Darbietungen mitunter nur laue Beifallsbekundungen ernten, belohnen die Zuschauer beim „Tell“ etliche Arien mit Szenenapplaus. Und das liegt sicher nicht nur daran, dass mehr junges Volk als sonst die Sitzreihen im Halbrund füllt. Tell sei mehr als ein Symbol für die Schweiz, sondern habe „eine Art Selbstbewusstsein und Selbstherrlichkeit geprägt, von der wir immer noch stark durchdrungen sind“, so hat Marthaler – der eigentlich nicht auf der Opernbühne, sondern im schweizerischen Unterhaltungsfernsehen zuhause ist – dem Magazin des Opernhauses gegenüber seine Inszenierung erklärt. Das ist, zumindest mit den Augen des zugereisten Ausländers gesehen, eine ziemlich kernige These, aber sie trägt den Abend.

Bevor der Vorhang endgültig fällt, wird auf der Bühne nochmals umgebaut. Das Alpenpanorama weicht einem Bild, das Europa bei Nacht zeigt. Deutlich zeichnen sich Ballungszentren und Küstenregionen als Lichterketten ab. Mitten in dem Lichtermeer liegt die Schweiz, deren Konturen nicht mehr so klar erkennbar sind. Dafür treibt vor der funkelnden Kulisse nun eine Eisscholle mit Schweizer Fähnchen über die Bühne. Ein Stück Packeis, im Zuge eines politischen Klimawandels von einer bildhaften Nordpoleiskappe abgerissen? Die Schweiz als eisiges Treibgut im europäischen Meer? Was Marthaler damit gemeint haben mag, haben die Kommentatoren im In- und Ausland nicht zu deuten gewagt.

Den Schlusschor singt das Ensemble aus den Rängen des Zuschauerraums. Marthaler bedient sich damit eines Kunstgriffs, der trotz aller Einfachheit nie seine Wirkung verfehlt. Das Gefühl, als Zuschauer mitten im Geschehen zu sitzen, entwickelt einen emotionalen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Und das funktioniert auch hier in Zürich. Der Vorhang fällt, das Publikum tobt, ergriffene Gesichter überall. Minutenlang schwillt der Applaus nicht ab. Der Jubel, der den Solisten zuteil wird, gilt womöglich mehr dem Tell der Legende als dem Sänger auf der Bühne – aber egal. Die Züricher haben ihre Neuauflage der Schweizer Gründungslegende. Historie hin oder her.

   

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