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09.11.2010

Die Tiere im Steinwald

Ein Einblick in den chinesischen Inlandtourismus

Reiche Tier- und Pflanzenwelt, eine abwechslungsreiche Kultur und Landschaftsformen, die nicht von dieser Welt scheinen. Yunnan bietet all das. Ein Blick in und auch hinter die Kulissen eines Ortes, der mehr ist, als ein Reiseziel nur für Chinesen.

Reiche Tier- und Pflanzenwelt, eine abwechslungsreiche Kultur und Landschaftsformen, die nicht von dieser Welt scheinen. Yunnan bietet all das. Ein Blick in und auch hinter die Kulissen eines Ortes, der mehr ist, als ein Reiseziel nur für Chinesen.

Kungmings Annehmlichkeiten sind bereits das erste Indiz für die Andersweltlichkeit von Yunnan, der südwestlichsten Provinz Chinas. Yunnan hat eine etwas größere Fläche als Deutschland und besitzt neben seiner Hauptstadt Kungming keine weiteren Ballungszentren. Bekannt für seine einzigartige Landschaft, aber auch einer reichen Flora und Fauna, ist es längst ein populäres Opfer der Touristen geworden – chinesischer Touristen wohlgemerkt.

Endlich im Bus eingestiegen und der prallen Sommersonne entkommen, genieße ich den kühlenden Luftstrom der Klimaanlage direkt über meinem Sitzplatz. Unsere Reiseführer sind ein Duo: Ein junger Mann und eine junge Frau, beide um die zwanzig Jahre. Zu meiner Überraschung begrüßen sie uns ohne gekünstelten Enthusiasmus oder ein übertriebenes Lächeln. Als sie unserer Reisegruppe eine Mischung aus Fakten und Anekdoten über Kungming und unserem Reiseziel, dem Steinwald, präsentieren, wirken sie beinahe professionell.

Lediglich das Mikrofon, das sie zwischen sich hin und her reichen, trübt das Bild ihrer Seriosität. Nach einer Weile beginnen beide sogar etwas über sich selber zu erzählen. Dabei erwähnt das Duo beinahe nebenbei, dass sie zu den Yi gehören, was sie als Überleitung nutzen, um unsere Reisegruppe über die Minderheiten in Yunnan aufzuklären.

Minderheiten werden auf Chinesisch als Xiaoshu Mingzu bezeichnet. Der Begriff kommt daher, dass die große Mehrheit der Menschen, die in China leben, zu den sogenannten Han-Chinesen gehört. Was im Westen meist als chinesische Kultur wahrgenommen wird, ist genauer gesagt Han-Kultur. Dies wird auch dadurch deutlich, dass in China das Mandarin, der Begriff für Hochchinesisch, oft als „Sprache der Han“ bezeichnet wird.

Der großen Masse der Han- Chinesen stehen 55 Minderheiten gegenüber, die zusammen etwa neun Prozent der Bevölkerung Chinas ausmachen. Offiziell sind zum Beispiel die Tibeter eine dieser Minderheiten. Die religiösen Traditionen der Tibeter, ihr Aussehen, ihre Sprache oder ihre Gesellschaftsstruktur sind von den Han- Chinesen ähnlich verschieden, wie dies auch bei den restlichen Minderheiten der Fall ist. Bei China von einem Vielvölkerstaat zu reden ist also gar nicht so verkehrt.

Die Reiseführerin beendet ihre Erzählung mit einer Sage der Yi. Ich verstehe grob, dass es um eine traurige Liebesgeschichte mit übernatürlichen Elementen geht. Hellhörig werde ich erst, als sie von einem Klagelied der weiblichen Hauptfigur erzählt, das seit Generationen überliefert wird. Einige der Touristen rufen laut aus, sie solle vorsingen. Zu meiner Überraschung nimmt sie tatsächlich das Mikrofon in die Hand und beginnt mit wohlklingender Stimme einen fremden Gesang anzustimmen. Ich verstehe kein Wort, doch ich komme mir wie ein Gaffer vor, ein Eindringling. Mir wird ein Stück intime Kultur zuteil, weil ich einem zahlenden Publikum angehöre. Die Reiseführerin beendet ihr Lied mit einem schüchternen Lächeln, was unsere Gruppe mit enthusiastischem Applaus quittiert. Traditionelle Gesangseinlage im Reisebus – die chinesische Art den Tourismus zu vermarkten.

Der Eingang des Steinwaldes

Die ersten Formationen des Steinwaldes wirken wie ein Schnitt in der Landschaft. Statt vereinzelt aufzutauchen, erscheinen sie geballt und bilden eine Front, als gäbe es eine unsichtbare Grenze, die dem Wachstum dieser grauen Monolithen Einhalt gebietet. Zwanzig bis dreißig Meter hohe, unförmige Säulen stehen dicht an dicht nebeneinander. Manchmal schmückt grüne Vegetation die Zwischenräume, was nichts daran ändert, dass die Gesteinssäulen wie von fremder Hand hingestellt wirken. Auch nach dem Ausstieg kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass diese Gebilde nicht von dieser Welt sind; Reisebroschüre und Touristeninformation zum Trotz, die alle hoch und heilig behaupten, der gesamte Steinwald sei durch Erosion und natürliche Witterung entstanden.

Der Eintritt zum Steinwald, wirkt zuerst wie bei einem Reservat oder Nationalpark. Ich merke jedoch schnell, wie sehr der Vergleich hinkt, als Frauen und Männer mit Kappen einzelne Mitglieder unserer Gruppe bedrängen, sie teilweise sogar am Ärmel zerren. Jeder dieser unabhängigen Tourguides verspricht eine unvergessliche Führung durch den Steinwald. Erst als unser Reiseführerduo eingreift – der junge Mann muss mehrfach seine Stimme heben – lassen sie wie vertriebene Aasgeier von uns ab. Wettbewerb in seiner reinsten Form.

Die unabhängigen Reiseführer sind oft Einheimische, die den Steinwald und seine Wege schon aus ihrer Kindheit kennen. Sie besitzen keine formelle Ausbildung und gehören meistens zu keinem Reisebüro. Völlig auf sich allein gestellt werben sie um ahnungslose oder auch abenteuerlustige Touristen. Nur ein Bruchteil der 350 Quadratkilometer großen Fläche des Steinwaldes ist für Besucher erschlossen, weshalb diese Einheimischen mit einer Führung abseits der gesicherten Wege zu locken versuchen.

Die Jagd nach dem Tiger im Stein

Unser Programm bezieht natürlich nur gepflasterte und vielfach begangene Pfade ein. Der erste optische Höhepunkt ist ein See inmitten der Steinsäulen. Neben den gepflegten Wegen schmückt sogar eine kleine Pagode die kitschige Szenerie. An dieser Stelle erzählt uns das Reiseführerduo von den Tieren des chinesischen Tierkreises, die in der unmittelbaren Umgebung um den See versteckt sind. Tatsächlich zeigen die verwitterten Oberflächen der Steinsäulen einen Reichtum an Formen und Mustern, auch wenn es einiges an Phantasie und gutem Willen braucht, konkrete Formen zu erkennen.

Ich suche eifrig, wenn auch ohne Erfolg, nach meinem Geburtstier, dem Tiger. Andere in meiner Gruppe haben mehr Glück: Schlange, Drache, Ochse und Ratte finden sie selbstständig, ehe unsere Reiseführer die restlichen Tiere auflösen. Nach der Verstecksuche folgen wir schließlich artig den Wegen und lauschen den Erklärungen über Karstlandschaften, den unterschiedlichen Gesteinssorten und der feineren Einteilung des Steinwaldes.

Beim Zuhören stelle ich fest, dass ich einen großen Teil der natürlichen Attraktionen, darunter sogar eine unterirdische Grotte, verpassen werde. Ich bereue bereits, nicht doch einen unabhängigen Führer angeheuert zu haben. Dieser kurze Besuch im Steinwald ähnelt dem Kontakt von uns Han-Chinesen mit den hiesigen Kulturen der Minderheiten: Flüchtig, oberflächlich und von der Kommerzialisierung maskiert.

Tatsächlich waren einige der Minderheiten in Yunnan bis knapp vor der Jahrtausendwende fast völlig von der Außenwelt abgeschottet. Innerhalb ihrer Gebiete lebten sie vergleichbar wie die amerikanischen Indianer in ihren Reservaten. Bai, Yi, Naxi, Mosou, Miao, Hui, Lasu oder Sui lauten einige der Namen eines Sammelsuriums an Völkern. Für Ethnologen stellt Yunnan also ein einziges El Dorado dar. Heute haben sich einige Minderheiten zu populären Forschungsgegenständen verschiedener Disziplinen gemausert. Ein Beispiel wären die Mosou, die bekannt sind für ihre matrilineare Gesellschaftsstruktur. Hier sind es die Frauen, die der Familie vorstehen. Außerdem haben nur sie das Recht, Besitz, Land und Familiennamen an die nächste Generation weiterzugeben.

Menschen wie das Reiseführerduo repräsentieren die Vermischung der Minderheiten mit dem modernen China. Sie sind Menschen, die oft an der Schwelle zwischen zwei Welten stehen: An der einen Seite die noch kaum angerührte Kultur ihrer Vorfahren und an der anderen Seite die verlockenden Güter der Konsum orientierten Gesellschaft. Die Tätigkeit des Tourismus ist für die Provinz Yunnan die Einnahmequelle schlechthin im Dienstleistungssektor.

Außerdem stellt er eine Möglichkeit dar, eine wenn auch wackelige Brücke zwischen den zwei so gegensätzlichen Welten zu schaffen. Viele junge Menschen aus den Minderheiten kehren ihren Wurzeln aber auch den Rücken zu und entschließen sich Teil der kapitalistischen Masse zu werden.

Die Führung endet nach vier Stunden. Ich steige etwas erschöpft in den klimatisierten Bus, doch das Gefühl, zu wenig gesehen zu haben, nagt immer noch an mir. Der Besuch im Steinwald ist aber nur der Auftakt meiner Yunnan-Reise, und der Auftakt einer besonderen Erfahrung: Fremder im eigenen Land zu sein.

von Xiolai Mu
   

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