18.01.2011
3096 Tage im Kellerverlies
Natascha Kampusch erzählt ihre Geschichte
Im Frühling 1998 verschwand die zehnjährige Natascha Kampusch am Stadtrand von Wien auf ihrem Schulweg scheinbar spurlos. Bald schon war dieses Verbrechen vergessen, das Opfer totgeglaubt.
Im Frühling 1998 verschwand die zehnjährige Natascha Kampusch am Stadtrand von Wien auf ihrem Schulweg scheinbar spurlos. Bald schon war dieses Verbrechen vergessen, das Opfer totgeglaubt.
Im Sommer 2006, als die junge Frau nach achteinhalb Jahren Gefangenschaft in einem winzigen Kellerverlies endlich die Kraft fand, zu fliehen, erschütterte ihr Schicksal die ganze Welt. Vier Jahre später veröffentlichte die nun 22-Jährige im vergangenen Herbst ein autobiografisches Buch „3096 Tage“, unterstützt durch zwei Ghostwriterinnen. Das Buch entstand aus dem Bedürfnis heraus, sich und ihre Geschichte zu erklären.
Weswegen? Anfangs gab es noch viel Mitgefühl und Entsetzen über die lange Gefangenschaft des Teenagers im Haus des bei seinem Selbstmord 44-jährigen Wieners Wolfgang Priklopil. Doch dies schlug schnell in Unverständnis um. Nicht nachvollziehen konnte man, warum Natascha den Täter, der ihr so Grausames angetan hatte, nicht verurteilte und erklärte, dass sie trotz der Misshandlungen schöne Momente mit ihm hatte. Schnell wurde sie in die Schublade „Stockholm-Syndrom“ gesteckt. Mit einer innerlich gewachsenen, starken jungen Frau ohne Schwarzweißdenken konnte man nicht umgehen; ebenso wenig mit einem Täter, der ein Mädchen nicht entführt hat, um es sexuell zu missbrauchen.
Und so erzählt die junge Wienerin offen und ausführlich ihre Geschichte, um alle Gerüchte und Vorwürfe der Medien aus der Welt zu schaffen. Sie erzählt von den verschiedenen Stadien ihrer Gefangenschaft, vom Verlust ihrer Identität und dem psychischen Gefängnis, das der Täter für sie baute und weswegen sie trotz vieler Gelegenheiten nicht floh. Die unglaublichen Misshandlungen, Ängste und Qualen, die die junge Frau ihre ganze Jugend lang erdulden musste, rufen tiefes Entsetzen hervor.
Als einzige Person, der der Einzelgänger seine beiden Gesichter zeigte, erzählt sie auch von der kranken Welt des Psychopathen. Von dem Widerspruch im Täter, jemanden haben zu wollen, der ihn liebt und gleichzeitig aber auch uneingeschränkter und brutaler Herrscher zu sein.
Doch sie erzählt von ihm mit Abstand. „Täter“ nennt sie ihn meistens, selten „Wolfgang Priklopil“ und niemals „Wolfgang“. Man merkt beim Lesen, dass die Wienerin sich sehr mit ihrem Schicksal auseinandergesetzt hat.
Doch trotz ihrer bewundernswerten Stärke, ist doch auf jeder Seite des Buches das Bedürfnis der 22-Jährigen spürbar, sich rechtfertigen und erklären zu müssen. Erst der Epilog, der nicht nur über die großen Ermittlungspannen und Vertuschungen der Polizei berichtet, sondern vor allem vom Medienrummel um die Entführung, gibt Aufschluss darüber, warum sie glaubt, vieles erklären zu müssen.
So grausam die Gefangenschaft Natascha Kampuschs war, trifft den Leser am Ende doch ein bisschen mehr die Grausamkeit der Medien, die ein Opfer schlimmer psychischer und physischer Gewalt dazu treiben, sich rechtfertigen und erklären zu müssen.
Warum das einen trifft? Weil Medien ihrem Konsumenten das geben, was er will.
Natascha Kampusch: „3096 Tage“, List Verlag, 19,95 Euro
von Michaela Reisdorff