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 Heidelberg
27.06.2011

Des einen MĂĽll ist des anderen Freud

Auch Abfälle finden noch Abnehmer – durch „Containern“

Salate. Immer wieder Salate. Es ist nachts kurz nach halb eins, im Hinterhof eines Heidelberger Supermarktes. Wir öffnen bereits die vierte MĂĽlltonne und erneut stoĂźen wir zuerst auf grĂĽne Salatblätter. 



Ob der leicht säuerliche Geruch, der beim Öffnen jeder Tonne die Luft erfüllt, von ihnen stammt, bezweifeln wir. Keiner der Salate macht den Eindruck, als hätte ihn schon das Zeitliche gesegnet. Wir graben etwas tiefer. Plötzlich eröffnet sich uns ein kleines Paradies gesunder Lebensmittel: Ananas, Weintrauben, Tomaten, Äpfel und Pfirsiche. Letztere sogar noch verpackt und ungeöffnet. Ein prüfender Blick genügt – keine Spur von Schimmel, Keimen oder Fäulnis. Verfallsdatum: 15. Juni. Einzig das Ursprungsland macht uns stutzig: Spanien. Egal, rein damit in den noch spärlich gefüllten Korb und die nächste Tonne geöffnet.

Bei unserem ersten „Containern“ stoĂźen wir auf die unterschiedlichsten Lebensmittel: von madenverzierten FrĂĽchte bis zu scheinbar ofenfrischen Brezeln, Broten und Apfeltaschen. FĂĽr fast jeden Geschmack und Geruch ist etwas dabei. 

„Containern“ bedeutet Supermarktabfälle aus deren MĂĽllcontainern einzusammeln. In letzter Zeit erfährt dieses Phänomen in Deutschland immer größere Aufmerksamkeit, denn nicht nur Obdachlose und sozial Benachteiligte bedienen sich aus den Abfalltonnen, um ihr Ăśberleben zu sichern. Es sind vor allem jĂĽngere Menschen. Auch Studenten fĂĽllen so vermehrt ihre KĂĽhlschränke. Geldknappheit ist ein Grund, aber oft containern sie auch aus einer kritischen Haltung gegenĂĽber unserer Ăśberfluss- und Wegwerfgesellschaft heraus. 

Eine Studie der Vereinten Nationen fand vor Kurzem heraus, dass rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel im Müll landet, die Hälfte davon sogar noch in der Originalverpackung. Häufig liegt das am Verhalten der Verbraucher selbst, aber auch die Supermärkte tragen Mitschuld. Verbraucherschützer bemängeln unter anderem, dass Lebensmittel kurz nach ihrem Verfallsdatum aussortiert werden, obwohl sie noch genießbar sind. Ein Verkauf zu einem reduzierten Preis wäre ihrer Ansicht nach sinnvoller. Dies ist jedoch rechtlich nicht gestattet und somit werden zahlreiche noch essbare Nahrungsmittel einfach weggeworfen.

Durch einen Tipp erfahren wir, wo man in Heidelberg einige „Dump Diver“ (zu Deutsch: Mülltaucher) treffen kann und unterhalten uns mit einem von ihnen. Trotz der Bitte um Anonymität wirkt Martin (Name geändert) sehr aufgeschlossen und teilt seine knapp fünf Jahre langen Container-Erfahrungen mit uns.

„Bevor ich’s euch gebe, schmeiße ich es lieber weg!“, schimpfte ein Bäcker einmal, als Martin und seine Freunde bei Ladenschluss nach dem unverkauften Restgebäck fragten. Genau diese Einstellung sei es, die er ablehnt und die ihn zu den nächtlichen Sammeltouren anspornt. Hinzu kommt der Abenteuerdrang und das spontane gesellige Unterfangen mit Freunden. Doch auch die absolute finanzielle Unabhängigkeit motiviert ihn – sich zu ernähren und dabei völlig ohne Geld und ohne am Handel teilzunehmen: „Ich will genau wissen, wo mein Geld hingeht. Beim Einkauf im Supermarkt ist das allerdings nicht der Fall“, sagt er.

Wie genau sieht ein Container-Abend aus? „Alleine ist es natĂĽrlich langweilig“, sagt Martin. Vor allem vor diversen Wochenendveranstaltungen, CampingausflĂĽgen oder Ă„hnlichem fände man sich daher meist in einer Gruppe zusammen, um so Proviant zu beschaffen. AusgerĂĽstet mit Taschenlampe, vielen Gummihandschuhen und Freizeitkleidung machen sie sich gegen Mitternacht auf den Weg. Die anfängliche Angst, erwischt zu werden, haben sie ĂĽber die Jahre längst verloren. 

Nicht selten werden die Tonnen nach Ladenschluss verbarrikadiert, die Lebensmittel zusammengestampft und unbrauchbar gemacht. Mittlerweile kenne Martin aber etwa 20 Märkte in und um Heidelberg, wo man containern kann. Einige Supermärkte ließen die Tore absichtlich offen stehen. Entdecken Martin und seine Freunde beim Durchwühlen der Abfälle eine Kostbarkeit am Tonnenboden, schrecken sie auch nicht davor zurück, hineinzusteigen.

Eine der freudigsten Entdeckungen beim Containern hätten sie während der Besetzung des Hörsaal 14 gemacht: An dem Abend versteckte sich gegen 22 Uhr ein tiefgefrorener „Hasenbraten Argentino“ in einer Rewe-Abfalltonne. Den Hasen richtete die Gruppe noch in der selben Nacht zu einem regelrechten Festmahl an. Bei Funden wie knapp 400 Wiener Würstchen sowie mehreren Litern Milch konnten die Sammler zuvor schon bis zu 40 Leute versorgen.

So viel GlĂĽck haben wir nicht. Am Ende unserer Tour sind wir von der Ausbeute ein wenig enttäuscht. Aber alles der Reihe nach: Wir beschlossen also, selbst loszuziehen. Ein löchriges, muffiges Paar Schuhe aus dem Schrank gekramt, dazu Hose und Pullover, an denen noch der Dreck vom letzten FuĂźballspiel haftet und die Einweghandschuhe aus dem Bad wurden eingepackt, um nicht direkt in Kontakt mit wildgewordenen Bakterien zu geraten. Das Abenteuer kann beginnen. 

Um halb zwölf erreichen wir den ersten Supermarkt. Mehrere Male umrunden wir ihn, finden aber keine MĂĽlltonnen. Das mag an unserer Unerfahrenheit liegen, denken wir und ziehen weiter. Auch der nächste Supermarkt hat seine Abfallbehälter wohl in der verschlossenen Tiefgarage versteckt. Erste Zweifel kommen auf: Sind wir zu naiv an die Sache herangegangen? Glaubten wir wirklich, dass uns die Discounter einfach so zum kostenlosen Lebensmittelshoppen einladen wĂĽrden? Nächster Versuch. 

Schon von Weitem erkennen wir: Dieses Mal könnten wir mehr GlĂĽck haben. An der Einfahrt steht groĂź auf einem Schild: „Ladezone bitte freihalten!“ Das spart uns wenigstens die Suche. Die Ladezone ist in einem kleinen Hinterhof, den sich der Supermarkt mit den Bewohnern des benachbarten Wohnblocks teilt. Wir betreten den Hof. Sofort ist er mit einem grellen, fast schon aufdringlichen Licht erfĂĽllt. Ein Bewegungsmelder hat uns erfasst. Umgehend richtet sich unser Blick auf die Fenster der Wohnungen. Niemand hat uns bemerkt. Die sieben MĂĽlltonnen stehen direkt neben dem Hintereingang des Marktes und sind verbraucherfreundlich nebeneinander aufgestellt. Wir legen die Rucksäcke und Fahrräder ab und ziehen die Einweghandschuhe ĂĽber. 

Die meisten Tonnen sind mit GemĂĽse und Obst gefĂĽllt. Darunter sind hauptsächlich Salate, Gurken und Tomaten. Zwar haben einige Ă„pfel eine etwas dunkle Farbe, aber ungenieĂźbar erscheint keines der grĂĽnen Lebensmittel. Wir wĂĽhlen weiter und der Gestank wird immer stärker, je weiter wir uns zum Boden des Abfallbehälters vorarbeiten. Die Ă„pfel sind nun komplett braun, ihre Oberfläche ist mit vielen kleinen, weiĂźen Lebewesen verziert. Die anderen Nahrungsmittel sehen ebenso aus. 

Nachdem wir alle MĂĽlltonnen durchforstet haben, blicken wir auf einen prall gefĂĽllten Warenkorb. Der Appetit darauf ist uns durch die vorangegangenen, geruchsintensiven Erlebnisse vergangen. Wir nehmen nur eine Packung Pfirsiche und einen Feldsalat mit und gehen weiter. 

Supermarkt Nummer vier besitzt ebenfalls gut zugängliche Container. Einige sind verschlossen und in den anderen befindet sich nur PlastikmĂĽll. Mittlerweile ist es kurz nach ein Uhr und wir werden mĂĽde. Containern ist ĂĽberraschend anstrengend. Jedoch werden wir schlagartig wach, als wir am Eingang des nächsten Lebensmittelgeschäftes mehrere menschenhohe auf Rollen fahrende Lagerkästen entdecken. 

Intuitiv versuchen wir, den ersten zu öffnen, was mit etwas Kraftaufwand auch gelingt. Schlagartig steigt der Duft ofenfrischer Backerzeugnisse in unsere Nasen. Der Mief von Fäulnis, der auf unseren Jacken haftet, ist fĂĽr kurze Zeit vergessen. Wir finden Körbe, die mit einer groĂźen Auswahl an Brötchen gefĂĽllt sind. Keines davon scheint älter als zwei Tage zu sein. Unser FrĂĽhstĂĽck ist gesichert. In der nächsten Kiste erwarten uns etliche Brote, Baguettes und einige Kuchensorten. Berauscht von diesem Erfolg beenden wir unsere Tour. Unsere Rucksäcke sind nicht so prall gefĂĽllt wie erwartet. Das Ergebnis von fast drei Stunden Containern besteht aus Pfirsichen, Feldsalat und Brötchen. 

Nach der Aktion fragen wir uns, ob die Supermärkte eigentlich von dieser regelmäßigen AbfallplĂĽnderung wissen? Wir kontaktieren Kaufland, Aldi, Edeka, Rewe, Penny und Lidl. Edeka antwortet. Sie hätten bisher kein Entwenden von Lebensmitteln aus den eingezäunten RestmĂĽlltonnen registriert. Kaufland und Rewe hingegen ist das bekannt. Doch laut Rewe-Pressesprecher handle es sich lediglich um „wenige Einzelfälle“. Rewe sei zudem mit mehr als 3300 Märkten in Deutschland der größte Spender von Lebensmitteln an die insgesamt 880 Tafeln, sodass es im Idealfall keinen Abfall geben dĂĽrfte. 

Die meisten der Unternehmen erklären, dass lediglich Waren, die beschädigt oder tatsächlich verdorben sind, im Container landen. Zudem rieten sie aus gesundheitlichen GrĂĽnden davon ab, sich daraus zu bedienen. 
Die „wenigen Einzelfälle“, von denen der Rewe-Pressesprecher spricht, erscheinen uns kaum glaubhaft. Im Internet finden wir zahlreiche Blogs und Foren, in denen sich „Dump Diver“ austauschen. Die meistgestellten Fragen dort lauten: Welcher Supermarkt bietet derzeit viel Essbares? Wo gelangt man am einfachsten an die Tonnen? Manche verabreden sich sogar zum gemeinsamen Containern, um die Lebensmittel danach beim gemeinschaftlichen Kochen zu verarbeiten. In Berlin und MĂĽnchen gibt es ganze Container-Kooperationen, deren Mitglieder sich nach dem Containern treffen und Waren austauschen. 

Rechtlich gesehen ist Containern übrigens strafbar, denn auch Abfall hat einen Besitzer. Somit begeht jeder „Dump Diver“ Diebstahl. Allerdings spricht die Polizei, wenn man erwischt wird, in der Regel nur eine Ermahnung aus, wie wir in einem Forum lesen.

„Ob man das Ganze mit seinem Gewissen vereinbaren kann, muss jeder mit sich selbst ausmachen“, hatte Martin uns vorher erzählt. Zwar schmeckte seine GemĂĽsesuppe nach dem Kochen auch schon einmal nach BiomĂĽll, doch mit dem Containern selbst habe er moralisch kein Problem. Ihn bedrĂĽckt es mehr, zu sehen, wie viel Ware täglich weggeschmissen wird. 

Umso schlechter ging es unserem eigenen Gewissen am Tag nach unserer Tour. Einer der Pfirsiche hatte die Nacht in der neuen Umgebung nicht überlebt und ist von einem flauschigen, grauen Pelzmantel umhüllt. Wir überlegen kurz und geben die gesamte Verpackung ihrer alten Umwelt zurück – dem Mülleimer.

von Fanny Hoffmann und Michael Graupner
   

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