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Wissenschaft
03.02.2012
Die kälteste Materie des Universums Unterwegs in der surrealen Welt der Experimentalphysik Das Bose-Einstein-Kondensat, ein besonderer Zustand, den Materie unter schwer herzustellenden Bedingungen annimmt, folgt anderen Gesetzen als die Dinge der „Normalwelt“. Mit Phänomenen dieser Extrembereiche befasst sich die Forschungsgruppe um Selim Jochim. Ein Tisch, zwei Tassen Kaffee und viele bemühte Worte von Professor Selim Jochim braucht es, um mir verständlich zu machen, warum man sich mit ultrakalten Quantengasen beschäftigt. Es startet ein hochinteressanter, zweistündiger Crashkurs in Quantenphysik, beginnend bei A, wie Anfang. Die Forschung in dieser Arbeitsgruppe baut auf der Quantenmechanik auf. Dass jede Materie sowohl Teilchen- als auch Welleneigenschaften besitzt, war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Revolution: Mehrere Grundannahmen der Physik mussten revidiert werden, Elektronen und Atomkerne rückten in den wissenschaftlichen Fokus. „Nehmen Sie zum Beispiel diesen Tisch hier“, sagt Jochim und klopft auf die harte Tischplatte, „in unserer makroskopischen Welt nehmen wir ihn als feste Materie wahr, so wie Newton es beschrieben hat. Schaut man sich jetzt aber dessen kleinste Bestandteile an, so bemerkt man, dass jedes einzelne den Regeln der Quantenmechanik folgt.“ Der Tisch ist somit beides, in unserer Welt Teilchen, in der „anderen Welt“ Welle. „Man könnte natürlich den Tisch auch in der makroskopischen Welt quantenmechanisch beschreiben, dazu müsste man jedes einzelne Atom mit seiner eigenen Wellenlänge darstellen. Das würde es aber nur unnötig kompliziert machen.“ Auf dem Weg zum Labor regnet es, ein paar Grad kälter und es würde schneien. „Was wir uns jetzt im Labor anschauen, ist das Verhalten der Teilchen in der Nähe des absoluten Nullpunkts“, also ein paar Nanokelvin „wärmer“ minus 273,15 Grad Celsius, ungleich kälter als draußen, unvorstellbar kalt. Bei dieser extremen Temperatur nimmt Materie eine neue Form an: das Bose-Einstein-Kondensat, 1924 vorhergesagt, 1995 erstmals hergestellt. 2001 erhielt der Heidelberger Physiker Wolfgang Ketterle hierfür gemeinsam mit zwei Kollegen den Nobelpreis. Um ein Bose-Einstein-Kondensat herzustellen, werden die Atome mit Laserstrahlen beschossen, das Licht prallt von ihnen ab und nimmt ihnen so Energie. Danach werden die Atome in eine Magnetfalle gesperrt und man lässt sie dort abkühlen, so wie eine Tasse mit heißem Kaffee. Dadurch befinden sich alle Atome in einer Wolke mit demselben Energieniveau, was für den makroskopisch denkenden Menschen die schwer verständliche Folge hat, dass alle Teilchen genau gleich, absolut identisch und damit ununterscheidbar sind. „Wir betreiben hier Grundlagenphysik. Was uns interessiert, ist die Funktionsweise dieses Systems und ob es möglich ist, Erkenntnisse darüber auf andere Systeme zu übertragen. Hochspannungsleitungen ohne Schwund wären eine denkbare Anwendung.“ Derzeit arbeitet die Gruppe daran, die Eigenschaften eines Systems aus wenigen Atomen gezielt einzustellen. Erste Erfolge konnten bereits in Science publiziert werden. Auf den ersten Blick wirkt das Labor wie ein riesiges Chaos. Unzählige Kabel, Spiegel und sonstige Apparaturen sind scheinbar wahllos auf den Versuchstischen angebracht. Dem Professor ist dieser Eindruck durchaus bewusst, „aber fehlt nur ein Kabel, wird nur ein Spiegel verstellt, funktioniert nichts mehr. Ähnlich wie in der Quantenwelt gibt es hier eine, wenn auch schwer verständliche, hintergründige Ordnung“, erklärt er zwinkernd. Seine Arbeitsgruppe arbeitet nicht mit einer Magnetfalle. Stattdessen wird mit einem fokussierten Laserstrahl eine Lichtfalle geschaffen, in der Lithiumatome eingesperrt werden. Die enorme Kälte erreicht man mit einer Mischung aus Laser- und Verdampfungskühlung. „Selim is watching you“, steht neckisch auf den Computern für die studentischen Mitarbeiter. Es herrscht ein gutes Arbeitsklima, jeder kennt sich mit dem gesamten Versuchsaufbau aus und kann an allen Stellen eingesetzt werden. „Es ist schön, mit jungen, ambitionierten Menschen zusammenzuarbeiten“, freut sich Jochim und sieht hier einen Vorteil des Bologna-Prozesses, dass die Studenten früher mit echter Wissenschaft in Kontakt kommen. Ihm ist auch sehr wichtig, dass hinter den Versuchen eine ganze Gruppe steht und nicht die Leistung eines Einzelnen ist. Erst kürzlich hat der europäische Forschungsrat der Arbeitsgruppe 1,5?Millionen?Euro zur Finanzierung ihrer Versuchsreihe zur Verfügung gestellt. Bei Kosten von mehreren zehntausend Euro für einen Laser wird auch klar, warum diese Summe notwendig ist. Vollgepackt mit neuen Erkenntnissen über die Realität mache ich mich auf den Heimweg. Es regnet immer noch, aber ob es jetzt Teilchen sind oder Wellen, die da auf mich herabfallen, nass werde ich in beiden Fällen. |