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 Heidelberg
29.01.2013

Die „Zitadelle des Aufruhrs“

Historie über die 68er-Bewegung in Heidelberg

Das Triplex-Gebäude war damals Sitz des AStA. / Foto: Michael Abschlag

Im Winter 1968/69 verwandelt sich das romantisch verschneite Heidelberg in einen brodelnden Kessel: Tausende Studenten marschieren durch die Altstadt; Polizisten stürmen den "Allgemeinen Studentenausschuss" AStA, es kommt zu Straßenschlachten.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) wirft die Frage auf, ob Heidelberg nicht die „Zitadelle des Aufruhrs“ genannt werden könne, nicht das Zentrum der deutschen Studentenbewegung sei, die im Rest der Republik, so scheint es, ihren Zenit bereits überschritten habe.

Ein halbes Jahr zuvor herrscht in Heidelberg noch Ruhe. Zu dem Zeitpunkt gibt es bereits in Städten wie Paris oder Berlin, San Francisco, Tokyo oder Prag eine starke Studentenbewegung. Nach dem Jahr ihrer größten Entfaltung wird sie auch als 68er-Bewegung bekannt. Zwar verläuft in Heidelberg das Sommersemester 1968 friedlich, doch auch hier stehen die Zeichen auf Veränderung. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) ist die stärkste politische Hochschulgruppe. Sein Büro in der Sandgasse bestehet aus zwei leeren, verdreckten Räumen, in denen es kaum Stühle gibt. Dafür gibt es einen Tauchsieder, Pulverkaffee und mehrere Wassergläser. Hier werden politische Aktionen beschlossen oder die tschechoslowakische Wirtschaftspolitik diskutiert. Gelegentlich veranstaltet der SDS Protestaktionen wie gegen die Olympiade in Mexiko oder Diskussionsabende zum Thema Sex. Mit ihrer Meinung zu politischen Büchern bestimmen die SDSler deren Verkaufszahlen. Ihre Versammlungen enden regelmäßig im „Cave“, wo sie zur Schließung um 4:30 Uhr morgens die Internationale singen.

Die Kritik des SDS richtet sich im Wesentlichen auf die Dinge, die auch in ganz Westdeutschland Studenten auf die Barrikaden treiben: Die Ausbeutung der Dritten Welt, der Vietnamkrieg (was durch die US-Streitkräfte in Heidelberg besondere Brisanz besitzt), die verdrängte NS-Vergangenheit, die Notstandsgesetze und die beschränkte studentische Mitbestimmung. Bei Letztem können die Sozialisten auf ein breites Bündnis im AStA setzten. Die Erweiterung der studentischen Mitbestimmung ist unter Studenten Konsens. Sogar der christlich-konservative RCDS ist dafür.

Im Dezember entflammt der Protest: Vier SDS-Mitgliedern, die Wahlplakate der NPD mit Hakenkreuzen übermalt hatten, droht ein Prozess. Fünf weitere, die eine Veranstaltung der Universität gestört hatten, sind wegen Nötigung sowie Land- und Hausfriedensbruch angeklagt. Da kurz vor den Weihnachtsferien eine angemessene öffentliche Aufmerksamkeit für das Verfahren nicht gewährleistet scheint, fordern 800 Heidelberger Studenten in einer Resolution die Verschiebung des Prozesses. Sie begleiten die Angeklagten in einem Demonstrationszug zum Gericht. Das sich durch die Aktion provoziert fühlende Landgericht stellt einen Haftbefehl gegen die fünf Störer aus. Doch diese fiehen. In einem südfranzösischen Dorf im Cevennengebirge werden sie aufgestöbert, können aber erneut untertauchen. Pünktlich zum Prozesstermin Anfang Januar tauchen sie plötzlich wieder in Heidelberg auf. In einem Demonstrationzug ziehen sie gemeinsam mit 2000 Studenten zum Gericht und rufen dabei höhnisch „Die Angeklagten sind unter uns!“ und „Holt sie euch!“

Zwei Tage später bricht um sechs Uhr morgens eine Hundertschaft der Polizei mit Äxten der Türen des AStA-Sitzes in der Grabengasse auf, wo die Angeklagten wohnen. Mehrere Studenten, die den Zugriff durch eine Sitzblockade verhindern wollen, werden verprügelt und festgenommen. Einem Fernsehreporter wird die Kamera entwendet und der Film zerstört. Die fünf Angeklagten werden ins Landesgefängnis nach Mannheim verbracht. Gegen sieben weitere Studenten wird Haftbefehl erlassen.

Auch Studenten, die mit dem SDS nichts zu tun haben, sind über das Vorgehen der Polizei empört. Am 13. Januar 1969 versuchen mehrere Studenten das Juristische Seminar zu besetzen. Diese scheitert jedoch, weil die Polizei informiert und vor Ort ist. Auf dem Rückweg besetzen sie stattdessen spontan das Psychologische und das Politikwissenschaftliche Institut, das sie in „Rosa-Luxemburg-Institut“ umbenennen. Anfang Februar versuchen einige per Rammbock ins Rektorat einzudringen, um dies ebenfalls zu besetzen. SIe scheitern jedoch an der Stabilität der Tür.

Derweil toben draußen Straßenschlachten mit der Polizei. In den verwinkelten Gassen sind die Studenten taktisch überlegen. Das harte Vorgehen der Polizei, das meist unbeteiligte Passanten trifft, mobilisiert noch mehr Studenten und auch Teile der Arbeiterschaft. Zugleich wenden sich jedoch viele Bürger gegen die Studenten. Einige denken an die Aufstellung von Bürgerwehren. Ein Abschleppunternehmer entfernt mit seinem Kran auf eigene Faust die rote Fahne des AStA. Als die Universität am 10. Februar schließlich wieder öffnet, gilt die Lage als beruhigt. 

Doch das bleibt es noch lange nicht. Im folgenden Sommersemester 1969 protestieren Studenten gegen geplante Fahrpreiserhöhungen, blockieren Straßenbahnschienen und verteilen rote Punkte an Autofahrer, die bereit sind, Mitfahrer aufzunehmen. Nach einigen Wochen nehmen die Verkehrsbetriebe die Preiserhöhung zurück.

Dann marschieren wieder mehr als tausend Studenten gegen den Vietnamkrieg. Einige Radikale verwüsten im Zuge dessen das Amerikahaus, die dem sich heute das DAI befindet, und stecken das Südasien-Institut in Brand, Sie verdächtigten die Einrichtungen geheimen Auftragsarbeiten für die USA nachzugehen. Wenig später wird Rektor Werner Conze bei einer Debatte mit Eiern und Tomaten bombardiert. Immer wieder kommt es zu Protestaktionen, Demonstrationen und Besetzungen, werden „alternative Vorlesungen“ abgehalten oder amerikanische Soldaten in Flugblättern zum Desertieren aufgefordert. Und dennoch: So angespannt wie im Wintersemester '68/69 wird die Lage in Heidelberg nie wieder.

Auch der SDS, lange Zeit treibende Kraft der Revolte, verschwindet. Als sich im März 1970 der Bundesverband auflöst, besteht die Heidelberger Gruppe noch drei Monate weiter, dann wird auch sie aufgelöst.

von Michael Abschlag
   

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